Essen. Gerichtssendungen greifen immer stärker in die Wirklichkeit ein. Juristen stöhnen über Zwischenrufe und Sitzplatzverwirrung. Die "Saleschisierung" ist eher ein Problem der niederen Instanzen und hier vor allem des Jugendstrafrechts.

Der „Sabotageteufel” treibt schon seit zwanzig Jahren sein Unwesen im Münsterland. Nun verdächtigen die Nachbarn einen 58-jährigen Landwirt, die Schrauben an die Maispflanzen geheftet zu haben, um die Mähdrescher der Konkurrenz zu zerstören. Doch beweist die DNA-Spur tatsächlich die Schuld des Angeklagten? Ein kniffliger Fall für Richter . . . Ein älterer Herr steht plötzlich auf, ruft ungefragt in die Zeugenvernehmung hinein: „Dazu kann ich auch was sagen.”

Die neuen Unsitten

Nein, kann er nicht: „Zwischenrufe sind nicht gestattet”, sagt Amtsrichter Peter Grashoff in Dortmund und stoppt diese neue Unsitte im Ansatz. Zwischenrufe, Sitzplatzverwirrung, Entertainment-Ansprüche – Fernsehschows beeinflussen den Alltag in deutschen Gerichten. „Es vergeht kaum eine Sitzung, in der ich nicht sage: Ruhe, wir sind hier nicht bei Frau Salesch”, stöhnt ebenfalls in Dortmund Amtsrichter Gerhard Breuer.

Wenn die rotschopfige Kollegin im Namen des Publikums urteilt, werden Akten zu Drehbüchern, Fälle lassen sich in 45 Minuten lösen, und Zufallszeugen kommen aus dem Nichts. Da keift der Rechtsanwalt Krechel die Zeugin an: „Dumm und Dreistigkeit ersetzt mangelnde Gehirnmase nicht! Merken Sie sich das.” Die Zeugin keift zurück. Und die Kosten des Verfahrens tragen wie immer die Kollegen.

„Es werden falsche Erwartungen geweckt”, kommentiert Oberstaatsanwältin Ina Holznagel die „bedenklichen” Auswirkungen der unrealistischen Darstellung. „Die Leute gucken uns mit tellergroßen Augen an und verstehen die Welt nicht mehr, wenn wir energisch sagen: Dazwischenquatschen gibt's nicht.”

"Alle kennen die Sendung"

Jugendrichter Bernd Schulte-Eversum baut da gleich vor: „Ich sage zu Beginn: Jungs, das läuft hier nicht wie im Fernsehen.” Die Reaktion sei fast immer gleich: „Die gucken sich an, kichern. Aber alle kennen die Sendung.” Richterin Barbara Salesch hat schon über 1500 Sendungen auf Sat.1 bestritten, die Wiederholungen laufen in der Regel zwei Mal täglich, und Richter Alexander Hold folgt ihr auf dem Fuße.

In der Tat ist die Saleschisierung eher ein Problem der niederen Instanzen und hier vor allem des Jugendstrafrechts. Der Essener Jugendrichter Gerd Richter etwa schaut selbst keine Gerichtshows, aber offenbar muss da der Angeklagte in der Mitte sitzen – und nicht am Rand wie üblich. Jedenfalls steuern die Angeklagten verstärkt auf den Zeugenstuhl zu, registriert der 63-Jährige. Und ja, die Zuhörer reden öfter dazwischen. Man müsse ihnen klarmachen, dass man sich in einem Prozess schnell irren und das Wesentliche verpassen könne, wenn Chaos herrsche. Was die Frau Salesch so alles durchgehen lässt . . . Richter weiß: „Bei mir macht das keiner ein zweites Mal.”

Möglich ist natürlich, dass die guten Sitten auch ohne Frau Salesch (oder durch amerikanische Serien) verlustig gingen. Die Jugendrichterin Hadwig Noesselt aus Bochum glaubt, dass das Fernsehen die Erwartungen von Angeklagten und Zeugen beeinflusst. „Sie wundern sich, dass es bei mir viel entspannter, viel ruhiger zugeht als in den Gerichtsshows.” Die dramatischen Szenen – der Verteidiger strebt in die Mitte des Saales und treibt mit flammenden Vorhaltungen einen Zeugen in die Enge –, sie kommen in Bochum so nicht vor. Trotzdem spielt Richterin Noesselt auch mal von sich aus auf die Gerichtsshows an – wenn sie Kinder hört. „Ich frage, ob sie Gerichtsshows gucken – und ob sie wissen, was das Wichtigste bei einer Zeugenaussage ist. Regelmäßig kommt als Antwort: die Wahrheit!”

Und auch die Dortmunder Amtsrichterin Hannah Oldenbruch kann den Gerichtsshows bei aller Skepsis auch Gutes abgewinnen. Sie trügen dazu bei, die Verfahren transparenter zu machen: „Ich habe den Eindruck, die Leute sind lockerer. Die große Ungewissheit – was passiert jetzt gleich hinter der Tür –, die gibt es nicht mehr.”

Die ganz große Show

Unter Druck geraten allerdings immer öfter die Verteidiger. „Es gibt Mandanten, die wollen, dass man lospoltert und die große Show abzieht”, sagt Anwältin Lisa Odebralski. „Die finden das komisch, wenn man dasitzt und einfach nur seine Arbeit macht.” Die hohe Quote von Freisprüchen bei TV-Prozessen macht die Arbeit nicht gerade leichter.

Auch der Mähdrescher-Prozess endete übrigens mit einem Freispruch – aus Mangel an Beweisen. Und dann gab es da noch jenen jungen Mann, der immer als erster am Tatort war und erpicht, die Mähdrescher zu reparieren. Aber das ist wieder ein anderer Fall.

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