Marl. Sechs Tage Grimme-Juror (in der Gruppe "Fiktion"), sechs Tage der ganze Marler Wahnsinn. Sein ironisches Juroren-Tagebuch schrieb WAZ-Redakteur Lars L. von der Gönna für den diesjährigen "Grimme", die Festschrift des bedeutendsten deutschen Fernsehpreises.

Erster Tag

13 h. Marl im späten Januar. Eröffnung. Aufkommender Wunsch, es möge bald beginnen, verhallt zunächst ungehört. Schöne Reden. Und doch ist es jetzt, wie zu früh am Bahnhof zu sein – einmal da, kann man mit der Zeit nichts anfangen.

In Marl ist ausnahmsweise schönes Wetter. Schönes Wetter in Marl fällt eher auf als, sagen wir, schönes Wetter in Rothenburg ob der Tauber. Schönes Wetter in Marl ist, wie wenn Oliver Pocher einem die Tür aufhält: Es passt nur bedingt zum Gesamteindruck.

13.40 h. Ein altgedienter Juror sagt in väterlichem Raunen zu mir: „Wenn Du in den Vorführsaal gehst, steht da rechts eine Kiste mit Kärtchen. Daraus ziehst du dir deine Juroren-Rolle für dieses Jahr. Es gibt ,Giftzwerg' und ,Volkstribun'. Es gibt ,Lyrisches Ich' und ,Reichsbedenkenträger'. Es gibt ,Statutenposaunist' und ,rhetorische Nebelkerze'.” Er lacht hintersinnig.

Ich verlasse den Empfang, suche die Kiste. Rechts gibt es nur fettarme Joghurts, Apfelsaft und Thermoskannen. Die weiße Thermoskanne bedeutet Tee. Es gibt keine Kiste. Ich beschließe, im Rahmen der Grimme-Jurorenschaft meine Ironiefähigkeit zu prüfen.

14 h. Die Medienassistentin setzt die Verdunkelung im Vorführraum in Gang. Es gibt kein Entrinnen mehr. Wir kommen erst wieder raus, wenn wir fünf Preise haben. Es wird Tage dauern. Das ist sicher.

22.40 h. Nachts im Hotelzimmer eine Management-Fibel entdeckt. Über dem Vorwort eingenickt.

Zweiter Tag

9 Uhr. Mit den Filmen hier ist es wie mit Verwandten. Man kann sie sich nicht aussuchen. Über die Abspulreihenfolge der nominierten Filme hat das Los entschieden. Es kann also bei Grimmes sein, dass man ungefrühstückt Zeuge eines Massenmordes wird oder zum Obstkuchen ein Dramolett über unerfüllte Kinderwünsche verzehrt. Gibt es eine biorhythmische Idealzeit für Preisträger? Sieht man eine Flugzeugentführung vor dem Zubettgehen mit weniger Wohlwollen? Ist der späte Vormittag ein Premiumplatz für Fernsehspiele über seelische Zerrüttung in den besten Jahren? Später unbedingt in die Diskussion geben.

14.55 h. „Die Menschen ziehen sich beim Sex nicht mehr aus”, bemerkt ein Juror hellsichtig. Er meint natürlich nicht alle Menschen. Er meint die Menschen in grimmepreiswürdigen Filmen. Aber es sind die einzigen, denen wir außer dem Nachtportier im Marler Parkhotel begegnen. Andere glaubt man am vierten Tag ohnehin nicht mehr zu kennen. Grimme-Juror zu sein, bedeutet Klausur, Isolation, Haft zum Erhalt des Qualitätsfernsehens. Mit Glück geht es ohne Lagerkoller und Heimweh. Ulrich Noethen sehe ich diese Woche öfter als meine Frau. Das ist ganz natürlich, rede ich mir ein. Man darf bei 12 Stunden Dauerfernsehen nicht den Halt verlieren.

15.10 h Warum sind die Käsebrötchen immer eher weg als die anderen?

16.20 h. Mir aus einem Film einen Witz notiert. Könnte man beim Abendessen am Tisch den Doku-Juroren erzählen. Die kennen ihn nicht.

23 Uhr. Mit meiner Frau telefoniert. Irgendwann entgegnet: „Das hat Uli Noethen heute auch gesagt!” Unschönes Ende. Trost in der Managerfibel gesucht. Titel: „Vom Kopf ins Herz”.

Dritter Tag

15.10 h. Ich glaube, es gibt eher das perfekte Verbrechen als den perfekten Film.

Film A zum Beispiel hat ein wunderbares Buch, leidet aber an Hauptdarstellerin B, die der Himmel mit der darstellerischen Tiefenschärfe einer korsischen Steineiche gesegnet hat. Film C dagegen ist eine visuelles Ereignis sondergleichen, leidet aber unter der Grundidee, 20 Hauptrollen in 90 Minuten seien ein dramaturgischer Coup der Extraklasse. Film D wiederum grübelt nach jedem zweiten Schritt über den ersten nach, dafür wunderbare Vereinigungsszene der Modeschauspieler E und F. Film G verfügt über die vielleicht beste Augennahaufnahme seit Bunuel, krankt indes an einem pudrigen Soundtrack, dem auch die Drehorgelklänge bei der langen Kamerafahrt über einen Soldatenfriedhof nicht aufhelfen. Film H fängt nicht an, hört nicht auf; Film H dauert nur.

23.25. Im Hotelnachttisch die Bibel gefunden. Nach Leerung der Minibar spontan Parallelen zur These über den perfekten Film entdeckt.

Vierter Tag

Das Juroren-Tagebuch

Sein ironisches Juroren-Tagebuch schrieb WAZ-Redakteur Lars L. von der Gönna für den diesjährigen "Grimme", die Festschrift des bedeutendsten deutschen Fernsehpreises. Sie erscheint am 3. April, dem Tag der Marler Grimme-Gala und Preisverleihung. In der Festschrift finden sich zahlreiche Beiträge zum deutschen Fernsehjahr. Autoren sind unter anderem Mitarbeiter des Grimme-Instituts, Jury-Mitglieder und Persönlichkeiten aus der Fernsehwelt.

7.30. Aufgewacht. Bibel-Parallele zum Qualitätsfernsehen vergessen. Sehr ärgerlich.

10.30 h. Sex ist immer wieder ein schönes Thema. Auch Sexszenen im Qualitätsfernsehen unterliegen Moden. 2008, darüber sprechen wir in der Jury gerade ganz offen, gab es auffällig viel Liebe im Wasser (mecklenburgische Seen, württembergische Fließgewässer, 1x unter der Dusche, 1 x fast in der Nordsee). Was das bedeutet, wird man fragen müssen. Wetter im Qualitätsfernsehen enträt nie semiotischer Züge.

11.45 h. Wir sehen unsere These gefährdet, als im nächsten Film ein Paar trockenen Fußes im Maisfeld zueinander findet. Doch dann kommt ein Schauer. Spontane Stärkung der Urteilskraft.

12.50 h. In Marl hat es zu regnen angefangen. Wider Erwarten keine enthemmte Stimmung im Saal.

22 h. Sehnsucht verspürt, aus der unechten Welt des Films in die Urbanität einer pulsierenden Stadt einzutauchen. Den Marler Stern aufgesucht. Der Marler Stern ist ein Einkaufszentrum aus den 1960er Jahren und kam 1984 ins Guinness Buch der Rekorde. Der Grund für seine Rekordwürdigkeit ist eine pneumatische Dachkonstruktion mit drei Luftkissen und Membranen aus PVC-beschichtetem Chemiefasergewebe

22.10 h. Rasche Einsicht. Der Marler Stern am Abend ist kein geeigneter Ort, Unechtes gegen irgendetwas anderes einzutauschen.

Fünfter Tag

17.12 h. Erregte Diskussion. Thema mit Variation: die Bedeutung von Maßstäben und Kriterien für unsere Urteile. Sehr unterschiedliche Stimmen. Wir kommen dabei nach und nach in den Wald.

Ich muss plötzlich an großartige alte Abenteuerfilme denken, in denen es immer wieder diese eine Szene gibt. Manchmal spielt sie in dunklen Tropfsteinhöhlen, manchmal im Dickicht der Mangrovenwälder oder im unendlichen Sandstrom einer lebensleeren Wüste. Die Helden kämpfen gegen alles Mögliche: Schlangen und Giftspinnen, Falltüren und falsche Weiber. Meist – Hollywood liebt Helden, die zurückbleiben – muss einer geopfert werden. Ihn frisst ein Krokodil oder er macht Räuberleiter und am Ende ist er der Letzte und es gibt dann natürlich keinen, der bei ihm Räuberleiter macht. Die Helden ziehen weiter, immer weiter, aber irgendwann fällt dann doch dieser eine Satz. Der Anführer der Truppe blickt hinauf zum Stand der Sonne, dann auf einen Kaktus. Schließlich sagt er in schleppendem Tonfall zu den anderen: „Wir gehen im Kreis!”

17.32 h Die Jury einigt sich darauf, die Diskussion über Maßstäbe und Kriterien zu einem anderen Zeitpunkt unbedingt fortzusetzen.

23.30h. Im Hotel ist ein russisches Militärorchester angekommen. Es sind muntere Gesellen. Das Zimmermädchen hat das Lesezeichen aus der Manager-Fibel entfernt. Erstmals im Hotel ferngesehen. Vier Automarken mit A gewusst.

Sechster Tag

10.30 h. Schlussdiskussion. Es fängt an, ein bisschen ungemütlich zu werden. Heute wird ja alles offenbar. Alles. Die große Liebe für den Film K: lange verheimlicht, um das Kleinod nicht zu früh der Hatz der Masse auszusetzen. Die Abneigung gegen Film L: ganze Tage unterdrückt, damit ein bisschen Laub auf die Fallgrube seiner Defizite flattern kann. Noch einmal wehen die Vokabeln und ihr Gegenteil durch den Raum: „grandios, indiskutabel, ambitioniert, trivial, unglaublich, hohl...”

Man spürt, dass einem Sieg oder Niederlage einer 2008 im deutschen Fernsehen ausgestrahlten deutschsprachigen Produktion plötzlich ganz und gar nicht egal sind. Ein schönes Gefühl, nebenbei.

11.50 h. Wir sind 13. Wir stimmen ab. Das Grimme-Verfahren ist auf raue Weise unfeuilletonistisch, es ist kein Schaden, dafür Mathematik zu können. Das Grimme-Verfahren ist leicht enigmatisch. Erst gibt man den nominierten 0 oder 10 Punkte. Zehn steht für toll. Soweit so gut. In der nächsten Runde aber kann man Punkte von eins bis zehn vergeben. Jetzt steht neun für das Hinterletzte. Es ist still. Die 13 Menschen schreiben.

Auswertung. Antragstellung Abstimmung. Handzeichen. Einfache Mehrheit. Grimme! Manche Preisträger sind gleich im Ziel, andere berühren die Latte. Es geht alles sehr schnell. Ein bisschen betäubt vom Sieg der Demokratie trinken wir Sekt. Nebenan riecht es nach Gemüsesuppe.

13 h. Abreise. Im Marler Stern gibt mir ein junger Mann einen Handzettel: Im benachbarten Dorsten, sagt er, habe ein Eros-Center eröffnet. Die Konkurrenz, denke ich, schläft nicht.

13.35h. Der Bahnhof von Marl hat nur ein Gleis. Ganz gleich, wohin man will. Nach einer Woche Qualitätsfernsehen sind einfache Dinge ein Geschenk.

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