Berlin. Über 11.000 Corona-Neuinfektionen pro Tag, Deutschland ist Risikogebiet. Maybrit Illner diskutierte: „Schaffen wir die Corona-Wende?“
Gestern hat das Robert Koch-Institut (RKI) mehr als 11.000 neue Corona-Infizierte an einem Tag gemeldet. Die 7-Tage-Inzidenz liegt im ganzen Land über dem Warnwert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ist an Covid-19 erkrankt. Die Lage ist kritisch. Gastgeberin Maybrit Illner fragte daher in ihrem Donnerstags-Talk: „Risikogebiet Deutschland – schaffen wir die Corona-Wende?“
Einig war man sich in der Runde bei Maybrit Illner darüber, dass man die Kontrolle über das Virus behalten müsse und auch darin, dass sich die von Dauermahnern wie Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder beschworene Drohkulisse abnutzt. Die Talkgäste diskutierten darüber, dass man eine Balance zwischen Panikmache und Verharmlosung finden müsse, um die Menschen bei der Pandemie-Bekämpfung mitzunehmen. Denn ein zweiter Lockdown müsse unbedingt vermieden werden.
Maybrit Illner: Das wären die Gäste
- Peter Tschentscher (SPD), Erster Bürgermeister Hamburg, Mediziner
- Christian Lindner (FDP), Parteivorsitzender
- Jagoda Marinić, Schriftstellerin und Kolumnistin
- Georg Mascolo, Journalist
- Susanne Herold, Professorin für Infektionskrankheiten
- Stefan Oschmann, Vorsitzender der Geschäftsleitung des Wissenschafts – und Technologiekonzerns Merck
Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD), der selbst Mediziner ist, wandte sich vehement gegen einen weiteren Shutdown: „Das geht nicht! Die Pandemie wird sich in den Metropolen entscheiden. Daher ist es wichtig, dass man sich in den großen Städten an die Regeln hält. Die sind bekanntlich relativ einfach sind. Abstand halten, nicht feiern, Maske tragen.“ Sorge machten ihm Menschen, die sagen, dass doch alles nicht so schlimm sei. Für Peter Tschentscher schlicht Ausflüchte für die eigene Verantwortungslosigkeit.
Lindner bei Illner: „Die politischen Entscheidungen müssen besser werden“
Doch wie erreicht man eine höhere Akzeptanz der Corona-Maßnahmen in der Bevölkerung, in der sich eine gewisse Pandemie-Müdigkeit breit gemacht hat? Schriftstellerin und Kolumnistin Jagoda Marinić fand, die Tonlage der Politik sei entscheidend. Wie sie anhand einer Theorie aus dem Krisenmanagement erklärte: „Zehn Prozent verstehen und managen eine Krise, 80 Prozent richten sich nach ihnen und gehen mit. Zehn Prozent gehen nicht mit. Man kann die Krise auch ohne sie meistern. Aber die 80 Prozent muss man richtig ansprechen, um sie mitzunehmen.“
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Da ein Ende der Pandemie im Augenblick nicht abzusehen sei, wünschte sich Jagoda Marinić endlich die Einbeziehung des Parlaments, um gemeinsame Standards zu finden.
Wasser auf die Mühlen von Christian Lindner. Der FDP-Vorsitzende fordert seit Tagen Beratungen im Parlament über die weitere Krisenstrategie. Bei „Maybrit Illner“ sagte er: „Die Qualität der politischen Entscheidungen muss besser werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass eine Fehleinschätzung wie das Beherbergungsverbot nie zustande gekommen wäre, wenn das vorher im Bundestag diskutiert worden wäre. In einem parlamentarischen Verfahren hatte man das Beherbergungsverbot als unverhältnismäßig zurückgewiesen.“
Tschentscher und Lindner geraten bei Corona-Beschlüssen aneinander
Entschieden hatten darüber bekanntlich die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin. Christian Lindner ärgerte sich sichtlich darüber, dass die Akzeptanz für die Corona-Maßnahmen aufgrund der falschen Entscheidung in der Bevölkerung zurück gegangen ist.
Daraufhin kam in der wohltemperierten, sachlichen Talkrunde kurz ein Moment auf, in dem es fast so etwas wie eine echte Diskussion gab. Denn Peter Tschentscher wies wiederum Lindners Kritik an der aktuellen politischen Praxis zurück. In unklarer Lage müsste die Politik in der Lage sein, schnell und beherzt zu entscheiden. „Wir sind dazu moralisch verpflichtet, konsequent zu handeln“, unterstrich er.
Christian Lindner jedoch konterte, dass der Bundestag durchaus komplizierte Gesetze schnell debattieren könne. Und Kritiker der Corona-Maßnahmen sollten sicher sein, dass ihr Argument im Parlament auch genannt und abgewogen werde. „Das trägt zur Versöhnung in der Gesellschaft bei“, betonte Christian Lindner. Womit er durchaus recht hat.
„Das Virus braucht einen Wirt. Jeder muss sich an die Regeln halten“
Ruhe in den Talk brachte Susanne Herold. Die Professorin für Infektionskrankheiten der Lunge und Abteilungsleiterin des Schwerpunkts Infektiologie des Universitätsklinikums in Gießen wurde live zugeschaltet. Für Susanne Herold lag es auf der Hand, dass die Corona-Maßnahmen nur dann auf hohe Akzeptanz treffen, wenn sie möglichst einheitlich sind. Die Verantwortung im Kampf gegen steigende Infektionszahlen sah sie bei jedem Einzelnen, vor allem im privaten Bereich: „Das Virus braucht einen Wirt. Insofern muss sich jeder für sich selbst an die AHA-Regeln halten.“ Jeder müsse sich jetzt fragen, was wichtig ist.
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Journalist Georg Mascolo brachte eine nachgerade tückische Perspektive der Pandemie auf den Punkt: „Das Fiese am Virus ist, dass man Arbeiten gehen kann, aber vieles verboten ist, was Spaß in der Freizeit macht.“ Man war sich bei „Maybrit Illner“ nämlich darüber einig, dass vor allem jetzt in den bevorstehenden kalten Monaten keine Zeit zum Feiern ist.
Wirklich neue Erkenntnisse brachte der Talk nicht. Zum Schluss gab es allerdings einen kleinen Hoffnungsschimmer. Merck-CEO Stefan Oschmann wurde live zugeschaltet und zeigte sich vorsichtig optimistisch: „Ich gehe davon aus, dass wir im nächsten Jahr einen Impfstoff haben.“ Mehr dazu: Bringt uns die Corona-Impfung das normale Leben zurück?