Berlin. Unintegriert, ungebildet, erfolglos – Klischees über Deutschtürken gibt es viele. Doch was ist dran? Die ARD bemüht sich um Aufklärung.

Spätestens seit Mesut Özils Foto mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wird in Deutschland wieder debattiert: Wie integriert sind Deutschtürken wirklich? Und wie schwer wird ihnen das andersherum gemacht?

Die Diskussionen darüber sind mitunter hitzig – und geprägt von Vorurteilen. Emel Korkmaz und Ilyas Meç haben für die Reihe „Die Story im Ersten“ genauer hingeschaut. Herausgekommen ist „Der Deutschtürken-Report“, eine ausführlich recherchierte Reportage, die gängige Klischees auf den Prüfstand stellt (ARD, 10. September, 22.45 Uhr).

Die Vorurteile

In Deutschland leben, aber die Türkei als echte Heimat sehen? Dass Deutsche mit türkischen Wurzeln sich eher türkisch als deutsch fühlen, ist wohl das meist verbreitete Vorurteil. Die Fußballer Mesut Özil und Ilkay Gündogan befeuerten es zuletzt,

Auch interessant

Dieses besonders plakative Klischee steht denn auch am Anfang der ARD-Reportage – und wird am gründlichsten beleuchtet.

Etwas weniger Zeit verwenden die Journalisten auf die Vorurteile „Deutschtürken sind erfolglos“ und „Deutschtürken sind ungebildet“ – wohl auch deshalb, weil sie sich leichter anhand von Daten prüfen lassen. Das vierte und letzte Klischee, „Deutschtürken leben in einer Parallelgesellschaft“, ist wiederum weniger greifbar und muss, wie der Sozialwissenschaftler sagen würde, mit qualitativen statt quantitativen Methoden untersucht werden. Will heißen: über Interviews.

Die Datengrundlage

Woher kommen die Vorurteile? Was spricht dafür, was dagegen? Und woher wissen die Reporter eigentlich, was der Rest Deutschlands über Deutschtürken denkt? Die Autoren ziehen diverse Daten zurate. Ein Überblick.

• Umfragen von Infratest Dimap

Um herauszufinden, welche Klischees es überhaupt gibt, wurden Umfragen durchgeführt. So gaben etwa 31 Prozent der Deutschen an, dass Deutschtürken sich eher türkisch als deutsch fühlen. 39 Prozent meinen, dass sie sich mit beiden Ländern gleich verbunden fühlen. Und nur 12 Prozent sind der Ansicht, dass Deutschtürken vor allem Deutschland als Heimat sehen.

Güldene Erdogan-Statue erhitzt die Gemüter

weitere Videos

    Die Umfragen bestätigen aber nicht nur die Existenz der Vorurteile, sondern lassen Rückschlüsse auf ihre Stärke zu. Während die Behauptung, die wahre Heimat sei für Deutschtürken die Türkei, von einem knappen Drittel geteilt wird, stimmte der These, dass Deutschtürken wirtschaftlich weniger erfolgreich seien, nur ein Fünftel zu. 67 Prozent sind der Meinung, dass es keinen Unterschied gibt.

    • Wahlergebnisse

    Das vermeintliche Faible der Deutschtürken für Erdogan –

    – dient im Report mit als Erklärung dafür, dass das Unverständnis gegenüber der Bevölkerungsgruppe wächst. Unerwähnt bleibt allerdings, dass die Hälfte der Deutschtürken gar nicht erst gewählt hat oder nicht mehr wählen konnte – weil sie längst nur noch deutsche Staatsbürger sind.

    • Arbeitsmarkt- und Schulbildungsdaten

    Deutschtürken sind wirtschaftlich nicht erfolgreich und ungebildet? Hierzu legt der Report eine Reihe von Daten vor: Zahl der von Türkeistämmigen gegründeten Unternehmen (110.000), Zahl der dadurch geschaffenen Arbeitsplätze (500.000),

    Auch interessant

    (5 Prozentpunkte höher als der Durchschnitt), Anteil der 25- bis 35-Jährigen ohne Berufsausbildung (28 Prozentpunkte höher als der Durchschnitt), Verteilung zwischen Hauptschule (4 Prozent mehr als der Durchschnitt) und Gymnasium (8 Prozent weniger).

    Die meisten Zahlen scheinen die Vorurteile eher zu belegen, doch der Report schränkt auch ein: Nach einer Studie der Universität Linz

    So mache es einen Unterschied, ob die gleiche Person Bewerbungen als „Sandra Bauer“ (19 Prozent Einladungen), „Meryem Öztürk“ (14 Prozent) oder „Meryem Öztürk mit Kopftuch“ (4 Prozent) verschicke.

    Unterschiede von Burka, Niqab und Co.

    Burka, Niqab, Hidschab: In der islamischen Welt tragen Frauen verschiedene Verschleierungen. Sie unterscheiden sich stark voneinander. Die extremste Form der Verschleierung ist die Burka. Das Ganzkörpergewand, das die Augen mit Stoff verdeckt, ist vor allem in Afghanistan und Pakistan verbreitet. In Afghanistan sind die Burkas meist blau, sie werden aber auch in anderen Farben gefertigt. Am meisten verbreitet in europäischen Ländern sind...
    Burka, Niqab, Hidschab: In der islamischen Welt tragen Frauen verschiedene Verschleierungen. Sie unterscheiden sich stark voneinander. Die extremste Form der Verschleierung ist die Burka. Das Ganzkörpergewand, das die Augen mit Stoff verdeckt, ist vor allem in Afghanistan und Pakistan verbreitet. In Afghanistan sind die Burkas meist blau, sie werden aber auch in anderen Farben gefertigt. Am meisten verbreitet in europäischen Ländern sind... © imago/Paulo Amorim | imago stock&people
    ... die schwarzen Burkas. Die Vollverschleierung dient auch dazu, ärmere Kleidung zu verbergen. Bis zum Ende der Taliban-Herrschaft in Afghanistan galt eine Burka-Pflicht. Trotzdem verlassen die meisten Frauen das Haus nach wie vor nicht ohne die Verschleierung.
    ... die schwarzen Burkas. Die Vollverschleierung dient auch dazu, ärmere Kleidung zu verbergen. Bis zum Ende der Taliban-Herrschaft in Afghanistan galt eine Burka-Pflicht. Trotzdem verlassen die meisten Frauen das Haus nach wie vor nicht ohne die Verschleierung. © REUTERS | © Gonzalo Fuentes / Reuters
    Das zweite traditionelle Kleidungsstück der Vollverschleierung ist der sogenannte Niqab. Der Unterschied zur Burka besteht darin, dass die Augenpartie sichtbar ist. Seinen Ursprung hat der Niqab in der Beduinen-Kultur auf der Arabischen Halbinsel, er diente in erster Linie als Sonnenschutz. Es gibt wie auch bei den anderen Kleidungsstücken diverse Variationen. Der einfache Niqab wird hinter dem Kopf verknotet, eine andere Variante wird mit einem Stirnband befestigt. Vor allem...
    Das zweite traditionelle Kleidungsstück der Vollverschleierung ist der sogenannte Niqab. Der Unterschied zur Burka besteht darin, dass die Augenpartie sichtbar ist. Seinen Ursprung hat der Niqab in der Beduinen-Kultur auf der Arabischen Halbinsel, er diente in erster Linie als Sonnenschutz. Es gibt wie auch bei den anderen Kleidungsstücken diverse Variationen. Der einfache Niqab wird hinter dem Kopf verknotet, eine andere Variante wird mit einem Stirnband befestigt. Vor allem... © Gwendoline Le Goff / PanoramiC
    ... in Ägypten, Syrien, Jordanien und dem Irak tragen Frauen den Niqab. Aber auch in anderen nordafrikanischen Ländern ist die Vollverschleierung verbreitet. Die Verbote in den europäischen Ländern betreffen die Burka und auch die Niqabs – und somit alle Formen der Vollverschleierung. Der Niqab wird gewöhnlich kombiniert mit dem sogenannten Tschador. Dieser wird auch allein getragen, ...
    ... in Ägypten, Syrien, Jordanien und dem Irak tragen Frauen den Niqab. Aber auch in anderen nordafrikanischen Ländern ist die Vollverschleierung verbreitet. Die Verbote in den europäischen Ländern betreffen die Burka und auch die Niqabs – und somit alle Formen der Vollverschleierung. Der Niqab wird gewöhnlich kombiniert mit dem sogenannten Tschador. Dieser wird auch allein getragen, ... © dpa | Boris Roessler
    ... so dass die Frauen sehr viel mehr Gesicht zeigen. Der Tschador ist vor allem im Iran verbreitet. Die Frauen tragen diesen Umhang um Kopf und Körper, wobei die Motive dafür ganz unterschiedlich sind. Für einige Berufszweige ist diese Verschleierung sogar verpflichtend, zum Beispiel in Schulen.
    ... so dass die Frauen sehr viel mehr Gesicht zeigen. Der Tschador ist vor allem im Iran verbreitet. Die Frauen tragen diesen Umhang um Kopf und Körper, wobei die Motive dafür ganz unterschiedlich sind. Für einige Berufszweige ist diese Verschleierung sogar verpflichtend, zum Beispiel in Schulen. © imago / Xinhua
    Vor der islamischen Revolution galt im Iran vorübergehend ein Verbot des Hijabs und somit jeglicher Verschleierung. Später durften Frauen nur noch mit Hijab für staatliche Institutionen arbeiten und letztlich wurde der Tschador für alle Mädchen und Frauen ab neun Jahren verpflichtend eingeführt.
    Vor der islamischen Revolution galt im Iran vorübergehend ein Verbot des Hijabs und somit jeglicher Verschleierung. Später durften Frauen nur noch mit Hijab für staatliche Institutionen arbeiten und letztlich wurde der Tschador für alle Mädchen und Frauen ab neun Jahren verpflichtend eingeführt. © imago/JOKER | imago stock&people
    Der Hidschab, das Kopftuch, ist die häufigste Form der Verschleierung. Ein einfaches Kopftuch bedeckt Haare, Ohren und den Hals. In zahlreichen muslimischen Ländern ist diese Form der Verschleierung Pflicht.
    Der Hidschab, das Kopftuch, ist die häufigste Form der Verschleierung. Ein einfaches Kopftuch bedeckt Haare, Ohren und den Hals. In zahlreichen muslimischen Ländern ist diese Form der Verschleierung Pflicht. © imago/ZUMA Press | imago stock&people
    Für viele Frauen ist das Kopftuch nicht nur Bekenntnis zu ihrer Religion, sondern auch ein Ausdruck von Modebewusstsein.
    Für viele Frauen ist das Kopftuch nicht nur Bekenntnis zu ihrer Religion, sondern auch ein Ausdruck von Modebewusstsein. © imago/ZUMA Press | imago stock&people
    1/8

    • Interviews

    Wo eine Überprüfung mittels Daten schwer fällt, greifen die Reporter auf Experten und Betroffene zurück. So erklärt der Uni-Professor,

    Auch interessant

    ein Vorstandsmitglied der Ditib äußert sich zum Vorwurf,

    Auch interessant

    und eine deutschtürkische Buchautorin kritisiert mangelnden Integrationswillen ihres Kulturkreises. Eine gut gemischte Auswahl, die erkennen lässt, dass die Reportage ein möglichst objektives Bild zeichnen will.

    Die eindrücklichsten Protagonisten

    Der „Deutschtürken-Report“ ist notwendigerweise sehr datenlastig. Die Autoren tun daher gut daran, die geballten Informationen immer wieder dadurch aufzulockern, dass sie Deutschtürken selbst zu Wort kommen lassen. Am meisten beim Zuschauer hängen bleiben dabei die jungen Offenbacher Bilal Kösen und Gürsel Selvican.

    Wenn die Jungs von ihrem Schulalltag erzählen, von

    Auch interessant

    fehlenden Mentoren und Perspektiven, von ihren Eltern, die keine Hilfe sind, weil sie nicht wissen, wie das deutsche Schulsystem funktioniert, oder selber so schlecht Deutsch sprechen, dass die Kinder den Papierkram für sie erledigen müssen – da möchte man fast seinen Job hinschmeißen und Sozialarbeiter werden, so wütend wird man ob dieser ungerechten Ausgangslage.

    Das Fazit

    Absolut sehenswert, auch wenn am Ende ein Ergebnis steht, das erwartbar war. Es gibt nicht DIE Deutschtürken, die Gruppe ist sehr heterogen, auf manche mögen die Vorurteile zutreffen, auf viele andere nicht. Und wenn Wahrheit in den Klischees steckt,

    Auch interessant

    Der Report ist so vollständig, wie ein journalistischer Beitrag sein kann. Wissenschaftliche Studien kann er naturgemäß nicht ersetzen. Seine Qualität liegt vielmehr darin, ein tieferes Verständnis zu entwickeln, warum die Verhältnisse so sind, wie sie sind. Integration ist komplex, einfache Antworten gibt es nicht. Der „Deutschtürken-Report“ hat diese diffuse Ahnung mit Fakten unterfüttert.