Essen. Hat sich da Kunst und Kapital verbündet oder ist es längst ein und dieselbe Branche? Am Dienstag gab es einen Paukenschlag in Kalifornien. Mal eben so jubelten „U2“ ihr 13. Studioalbum 500 Millionen Nutzern von „iTunes“ unter, kostenlos. Apple strahlte über den gemeinsamen Coup.

Marketing können sie, sowohl der Elektronik-Riese Apple als auch die irische Rockband U2. Gemeinsam sorgten sie am Dienstagabend für einen besonderen Paukenschlag: Das 13. Studio-Album von Bono und seiner Bande, „Songs of Innocence“, wurde den rund 500 Millionen registrierten Nutzern des Musik-Portals iTunes kostenlos zur Verfügung gestellt. Für alle Freunde der Haptik gibt es ab 10. Oktober eine Doppel-CD mit vier zusätzlichen Songs und Akustik-Variationen – zu kaufen.

Elf Songs, gut 49 Minuten, ein 24-seitiges Booklet – das ist ein klassisches U2-Album. Und so hört es sich auch an. Oder doch nicht? Gleich zu Beginn geht „The Mira­cle (of Joey Ramone)“ nach vorne, mit stadiontauglichen Chorälen („Oooh-way-oh“), einer guten Mischung aus glitzerndem Glam-Pop und grollenden Grunge-Gitarren. „Every Breaking Wave“ ist ein liebliches Stück Musik, ebenso wie „Song for Someone“, der die Zweisamkeit auf Konzerten einfordert. Aber es geht auch ins dreckige Dublin, doch dazu später.

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Kurz der Blick zurück: Im Februar 2009 hatten U2 „No Line On The Horizon“ veröffentlicht, ihre nunmehr vorletzte Platte. Es folgte die zweijährige und Rekorde brechende 360°-Welttournee, die mit der futuristischen Krakenbühne. Seitdem nichts, außer Gerüchte. Und Aussagen von Bono, die in Fankreisen nur belächelt werden: mal sollte das neue Album spätestens Ende 2012 erscheinen, mal sollte es ein Doppel-Album werden, mal zwei kurz aufeinander folgende Scheiben.

„Songs of Experience“ in Arbeit

Und so wird es nun sein. In einem Brief an die U2-Fangemeinde verkündete der 54-Jährige neben der mehrjährigen Zusammenarbeit mit dem Apple-Konzern (der dafür sorgt, dass die vier schwerreichen Iren auch noch ein paar Dollars in die Portokasse bekommen) auch ein zweites Album: „Wenn ihr ,Songs of Innocence’ mögt, freut euch auf ,Songs of Experience’. Sollten bald fertig sein.“ Das aktuelle Werk beschreibt er als „sehr, sehr persönlich“ – und das wird beim mehrfachen Nachhören auch deutlich.

„Iris (Hold Me Close)“ ist ein Song über seine Mutter, „This Is Where You Can Reach Me Now“ wird Clash-Sänger Joe Strummer gewidmet. Und dann sind da noch „Raised By Wolves“ und „Cedarwood Street“, die in das nördliche Dublin der 1970er-Jahre entführen, die Gegend, in der sie aufgewachsen sind – düster, rau, realistisch. Getragen von den Gitarren von The Edge, geleitet von der Stimme des Paul Hewson. Das solide Fundament liefern Bassmann Adam Clayton sowie Bandgründer und Schlagzeuger Larry Mullen jr.

Sie wollen sich nicht neu erfinden (wie in den 1990er-Jahren), sie wollen aber frisch daherkommen. Und das gelingt weitestgehend – „California (There Is No End To Love)“ etwa ist zu glatt gebügelt. Sie beweisen, dass es auch nach 35 Jahren gemeinsamer Geschichte keinen Stillstand geben muss.

Fünf Produzenten

Fünf Produzenten haben an den Songs herumgeschraubt, so viele wie noch nie in der U2-Historie, darunter Größen wie Danger Mouse, Ryan Tedder (One Republic) und Paul Epworth (Adele, Bloc Party). Ihr größtes Verdienst: Sie haben U2 neben den bekannten Rock-Bausteinen ein paar mehr Synthesizer verordnet, was dem Gesamtwerk hörbar guttut.

Duett mit Lykke Li

Bestes Beispiel: „The Troubles“, das letzte Lied von „Songs of Innocence“. Eine düstere Weise, bei der Bono von der schwedischen Sängerin Lykke Li kongenial unterstützt wird. In einer Art Nachtflug verschmelzen die Stimmen, die Gitarren und sphärische Streicher zu einem gelungenen Gesamtwerk – womöglich der beste Album-Abschluss, der U2 je gelungen ist.

Große Gesten gab es am Dienstagmorgen (Ortszeit) in Cupertino, Kalifornien, eine fulminante Vorstellung – die Band spielte „The Mira­cle (of Joey Ramone)“ live. Klein können sie eben beide nicht, weder Apple noch U2.

Der Dichter William Blake (1757-1827) hat die Gedichtbände „Songs of Innocence“ (1789) und „Songs of Experience“ (1794) veröffentlicht. Offensichtlich, dass U2 ihre Alben als Hommage verstehen.

In der Rock- und Popwelt fühlten sich schon mehrere Künstler durch seine düsteren Verse inspiriert, etwa The Doors oder auch Patti Smith.