Dortmund. . Gegen eine Zeit, die Helden braucht, richten wir nichts aus, resümiert Kassandra am Lebensende. Doch weder im Erzähltext der Christa Wolf noch im Monolog der Schauspielerin Bettina Lieder auf der Bühne des Dortmunder Schauspiels kommt dies dem Eingeständnis einer Niederlage gleich.

Kassandra kennt ihr Schicksal. Sie ist eine der vielen Figuren, die der Troja-Mythos hervorgebracht hat, Tochter des Königs Priamos und seiner Frau Hekabe, die die Machtfäden in der Hand hält. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern, wird sie von der Mutter in die politischen Zusammenhänge eingeführt. Doch nicht nur das schärft ihren Blick für die Wirklichkeit. Sie besitzt auch die Gabe der Weissagung.

Die hat Gott Apollon ihr verliehen – ihrer Schönheit wegen. Doch die Priesterin verweigert sich seinem Liebeswerben. Apollon straft sie mit einem Fluch. Nie, so sein Verdikt, werde man ihren Voraussagen Glauben schenken. Sie weiß also um den Ausgang des Trojanischen Krieges, sie durchschaut die Griechenlist mit dem Pferd. Verhindern kann sie nichts.

Bettina Lieder steht in der Mitte der fast leeren Bühne, vor einer verspiegelten Rückwand, mit dem Rücken zum Publikum, das sie – und vage sich selbst – als Spiegelung wahrnimmt. Diese Kassandra bewegt sich nicht, bleibt ungerührt. Nur die Bewegung ihrer Hände unterstreicht, was sie spricht.

Zeit, diese Frau zu lesen. Sie ist eine moderne Frau. Ihr Rock reicht bis zu den Knöcheln, so sind einst die Suffragetten gegangen. Eine schlichte, bordeaurote Bluse gibt ihr Halt, am ehesten austauschbar ist ihr blondes Haar. Sie ist nah dran, zum Denkmal zu erstarren. Es dauert, bis Bewegung in diesen Körper kommt.

Der Text, den sie spricht, hat es auch in einer Fassung des Dramaturgen und der Regisseurin dieses Abends, von Dirk Baumann und Lena Biresch, in sich. Die Sprache ist höchst artifiziell, gewaltig schön, aber wer sie spricht und wer ihr zuhört, muss sie immer auch sich selbst übersetzen.

Da geht es um Personal, das in der Troja-Geschichte nicht im Vordergrund steht; Anchises, der Vater des Aineias und Skulpturenschnitzer etwa, spielt in dieser Kassandra-Biografie eine wichtige Rolle. Vor allem aber geht es um die Frage des Erkennens.

Ist die schöne Helena nur ein Fake?

Immer wieder spricht Kassandra vom Sehen, im Sinne von Hinsehen. Vieles in der Politik geschieht nur, „um nicht sehen zu müssen“. Helena etwa, die schöne Helena – nur ein Fake, ein Phantom, um der politischen Propaganda willen? Man muss festhalten, dass es sich um einen DDR-Text von 1982 handelt, auch die trojanische Staatssicherheit will da übersetzt werden. Die Brisanz des Textes ist auch heute unüberhörbar.

Bettina Lieder macht einen großen, stolzen Abend daraus, er ist auch eine Absage an die patriarchalischen Vorstellungen, die der Mythos transportiert. Dass es auch physisch schwere Arbeit ist, zeigt die Premiere, in der die Schauspielerin einen kurzen, schnell überwundenen Zusammenbruch erlitt.

Die nächsten Vorstellungstermine am Theater Dortmund: 9. und 25. April, 23. Mai 2014