Frankfurt/M. . „Esprit Montmartre“: Eine ungewöhnliche Schau in der Frankfurter Kunsthalle Schirn zeigt den Vergnügungsort der Künstlerszene an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von allen erdenklichen Seiten. Mit Gemälden von Stars wie Picasso, van Gogh und Kees van Dongen und viel nackter Haut.

Am Eingang der Schirn wird es schwülstig. Besucher betreten ein scharlachrotes Kabinett, man riecht förmlich den Absinth, obwohl er hier gar nicht ausgeschenkt wird, man sieht lüsterne Männer, die auf entkleidete Frauen schauen, und schließlich – sich selbst in Spiegeln des Kabinetts, mit viel Neugier im Gesicht.

Montmartre
Montmartre © Schirn

Der berühmteste Hügel von Paris, Montmartre, ist nach Frankfurt gekommen. In der Schirn werden Gemälde und Fotografien gezeigt, dem Esprit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf der Spur. Dichter und Maler hatten das Viertel am Rand des Boulevard de Clichy zu ihrem Amüsierpflaster gemacht, sie trafen auf andere Künstler, auf Sänger, Tänzer und lebenslustiges Proletariat.

Van Gogh, Picasso, Toulouse-Lautrec

Van Gogh wohnte auf der Erhebung aus Gipsgestein, Picasso trieb sich in Espadrilles und Fischerhemd ohne Kragen in den Straßen herum, Max Jacob durchstreifte das Viertel im Seidencape, André Derain in roter Weste und knallgelben Schuhen. Edgar Degas, Braque und Modigliani mochten es eher nobel. Aber rund um Moulin Rou­ge wohnten auch Arbeitslose und Frauen ohne Männer, die ihre Kinder durchbringen mussten. Kneipen trugen Namen wie „Rendezvous der Diebe“, dahinter hausten Menschen in Bretterbuden, im Winter ungeheizt. Auf Bildern haben Kinder oft keine Schuhe.

Auguste Chabaud, Moulin Rouge la nuit, 1907.
Auguste Chabaud, Moulin Rouge la nuit, 1907. © Schirn

Die feine Pariser Gesellschaft suchte hier sozialen Kitzel. Es gab Schwule, Lesben und käufliche Frauen, ein Lokal, in dem Särge als Tische dienten, der Wein floss, und in den wilden Nächten wurde gelacht, gegrölt, geweint. Der Montmartre saugte alles an in Tanzlokalen, Kabaretts und Varietés. „Nie waren wir so glücklich wie hier“, sagte Picasso, und doch zeigen seine Bordellszenen maskenhafte Frauen mit leeren Augen und gebrochenen Seelen. Rund 700 Studien soll Picasso hier gefertigt haben, sie brachten ihm erste Erfolge – und dann zog er weiter.

Zur Ausstellung

Kunsthalle Schirn: „Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900.“ Bis 1. Juni.

Geöffnet: di/fr-so 10–19 Uhr, mi/do 10-21 Uhr; Eintritt: 7 €, erm. 5 €; inkl. ICE-Fahrkarte von jedem deutschen Bahnhof: 39 € (2. Klasse) bzw. 49 € (1. Klasse). Katalog: 34 €, Audioguide: 3 €. Tel. 069/299 88 20, Online-Tickets im Internet: www.schirn.de

Die Ausstellung in der Schirn plakatiert nicht nur fotogen die Schauseite, sie zeigt auch Hinterhöfe, Hintergründe: Frauen mit fescher Federboa und knochigen Schultern, die Brüste von der Mangelernährung ausgemergelt, die Gesichter mit Trauerflor unterm willfährigen Lächeln. Kriminelle, Obdachlose, Zuhälter, auch politisch Radikale. Die Doppelmoral war gesellschaftlich anerkannt, Frauen hatten keine Rechte, Männer hatten das Geld.

Suzanne Valadon ist vertreten

200 Kunstwerke von 26 Künstlern werden gezeigt, darunter Henri de Toulouse-Lautrec, der Alkoholiker war und an Syphilis starb. Sie alle suchten die nackte Frau, an der Place Pigalle konnten sie sich jeden Montag ihre Modelle aussuchen. Beliebtestes Motiv: Die Frau auf einem Lager, uniformiert mit kniehohen schwarzen Strümpfen, oft die Arme hinterm Kopf verschränkt, der Körper ausgestellt mit Betonung der Rundungen. Das zog Voyeure in Scharen an. Nur Pierre Bonnard malte 1898 auch einen nackten Mann, der seinen Arm in die Hüfte schiebt, der Lendenbereich dunkel verschmiert.



Eine Künstlerin immerhin ist vertreten, Suzanne Valadon, 1865 geboren. Als junge Frau war sie Modell, Renoir und Toulouse-Lautrec gehörten zu ihren Liebhabern. Valadon begann mit Skizzen, Degas lobte ihre Zeichnungen. 1894 gab es eine erste Ausstellung ihrer Bilder. In Frankfurt wird ein liegender Akt mit Suzanne Valadon gezeigt, ein Selbstporträt sowie Porträts ihrer alten Mutter und ihres Sohnes. Eine Entdeckung.