Solingen. . Der Fall Gurlitt wirft noch immer Fragen auf. Ein Gespräch mit Rolf Jessewitsch, Leiter des Kunstmuseums Solingen, über verfemte und geraubte Kunst.

Die Entdeckung der Sammlung des Kunsthändler-Sohns Cornelius Gurlitt wirft noch immer Fragen auf. Gibt es weitere Depots mit Kunstwerken, die von Nazis in Museen beschlagnahmt oder jüdischen Besitzern geraubt wurden? Ja, meint der Museumsdirektor Rolf Jessewitsch. Er leitet das Kunstmuseum Solingen mit seinem einzigartigen Schatz – Werke von vergessenen Künstlern, die die Nazis als „entartet“ verfemt hatten. Einige Namen tauchten in der Gurlitt-Sammlung auf.

War es in Expertenkreisen bekannt, dass Cornelius Gurlitt, Sohn des NS-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, eine Sammlung besitzt?

Rolf Jessewitsch: Ich wusste, dass da in München eine Sammlung ist, und ich bin nicht der einzige, der das wusste. Natürlich war niemand in der Wohnung, aber durch Kontakte und Bildverkäufe wurde deutlich, dass Cornelius Gurlitt eine Sammlung mit namhaften Bildern hat. Der Name Gurlitt war vielen Personen im Kunstbetrieb bekannt.

Ist diese Sammlung eine einzigartige Kollektion mit von Nazis beschlagnahmter und wohl auch geraubter Kunst?

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Jessewitsch: Nein, das ist sie nicht. Man kann nach Rostock fahren und dort im Kulturhistorischen Museum die Sammlung von Bernhard Böhmer angucken. Das war einer der von den Nazis autorisierten Kunsthändler. Die Gurlitt-Sammlung ist ein großer und spektakulärer Fall. Aber es gibt noch mehr Sammlungen, die mehr oder weniger bekannt sind. Auch in Frankreich lagern noch etwa 2000 Raubkunst-Objekte in verschiedenen Depots. Und es gibt auch bei uns Depots, die noch nicht geöffnet sind.

Ist das in Expertenkreisen bekannt?

Jessewitsch: Nur im ganz kleinen Kreis. Es ist so, dass die dafür Verantwortlichen darüber nicht reden und bisher auch keine Anzeichen dafür zu erkennen sind, dass die Offenlegung solcher Bestände in Angriff genommen wird.

Warum nicht?

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Jessewitsch: Das war in der Nachkriegszeit in Deutschland kein Thema. 1989, als der Eiserne Vorhang fiel, wäre es auch an der Zeit gewesen, es aufzuarbeiten. Aber man hat es nicht gemacht.

Man wundert sich, dass erst durch das Auftauchen der Gurlitt-Sammlung ein Bewusstsein für Raubkunst entstanden zu sein scheint.

Jessewitsch: Und jetzt beginnt das große Staunen, dass wir noch ein Gesetz von 1938 haben, das diesen Kunstraub aus den Museen nachträglich legitimiert. Es gilt bis heute und wurde nicht aufgehoben. Wenn also bei Gurlitt Bilder aus öffentlichem Kunstbesitz sind oder Raubkunst, dann ist das legal. Deshalb kann man eigentlich nichts anderes machen, als Gurlitt seine Sammlung zurückzugeben.

In der Gurlitt-Sammlung sind auch Bilder von heute vergessenen Künstlern wie Bernhard Kretzschmar. Muss man die Kunstgeschichte jetzt umschreiben?

25 Kunstwerke aus Gurlitt-Fundus

Bernhard Kretschmars
Bernhard Kretschmars "Strassenbahn", Aquarell mit unbekanntem Entstehungsdatum. © dpa
Hans Christoph:
Hans Christoph: "Paar", Aquarell, 1924. © dpa
Max Liebermann:
Max Liebermann: ""Reiter am Strand", Gemälde, 1901. © dpa
Conrad Felixmueller:
Conrad Felixmueller: "Paar in Landschaft", Aquarell, 1924. © dpa
Marc Chagall: '
Marc Chagall: '"Allegorische Szene", undatiertes Gemälde. © dpa
Erich Fraass:
Erich Fraass: "Mutter und Kind", Aquarell, 1922. © dpa
Wilhelm Lachnit:
Wilhelm Lachnit: "Mann und Frau am Fenster", Aquarell aus dem Jahr 1923. © dpa
Henri Matisse:
Henri Matisse: "Sitzende Frau / In einem Sessel sitzende Frau", Gemälde, um 1924. © dpa
Otto Griebel:
Otto Griebel: "Die Verschleierte", Aquarell, entstanden 1926. © dpa
Wilhelm Lachnit,
Wilhelm Lachnit, "Maedchen am Tisch", Aquarell, 1923. © dpa
Otto Griebel:
Otto Griebel: "Kind am Tisch", undatiertes Aquarell. © dpa
Christoph Voll:
Christoph Voll:"Mönch", Aquarell, 1921. © dpa
Otto Dix:
Otto Dix: "Dame in der Loge", Aquarell, 1922. © dpa
Otto Dix:
Otto Dix: "Dompteuse". Aquarell, 1926. © dpa
Honore Daumier:
Honore Daumier: "Don Quichote und Sancho Panza", Gemälde, um 1865. © dpa
Théodore Rousseau:
Théodore Rousseau: "Vue de la vallée de la Seine", undatierte Zeichnung. © dpa
Ludwig Godenschweg: 
Ludwig Godenschweg: "Weiblicher Akt", undatierte Druckgrafik. © dpa
Ludwig Godenschweg:
Ludwig Godenschweg: "Männliches Bildnis". Druckgrafik, undatiert. © dpa
Eugene Delacroix:
Eugene Delacroix: "Conversation mauresque sur une terrasse", undatierte Bleistiftzeichnung. © dpa
Carl Spitzweg:
Carl Spitzweg: "Das Klavierspiel", Zeichnung, um 1840. © dpa
Auguste Rodin:
Auguste Rodin: "Etude de femme nue debout, les bras releves, les mains croisees au-dessus de la tete", undatierte Zeichnung. © dpa
Bonaventura Genelli:
Bonaventura Genelli: "Männlicher Akt", undatierte Zeichung. © dpa
Antonio Canaletto:
Antonio Canaletto: "Sa. Giustina in Prà della Vale". Padua, Druckgrafik von 1751/1800. © dpa
Fritz Maskos:
Fritz Maskos: "Sinnende Frau", Druckgrafik, 1922. © dpa
Christoph Voll: Christoph Voll:
Christoph Voll: Christoph Voll: "Sprengmeister Hantsch", Zeichnung, 1922. © dpa
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Jessewitsch: Die Nazis haben 20 000 Kunstwerke von rund 1600 Künstlern aus den Museen geholt. Wenn wir die Künstler nicht wahrnehmen, fehlt uns etwas. Das haben die Nazis verursacht, und es wirkt bis heute. Tausende Bilder sind auch verbrannt worden. Noch größer war die Zahl der aus Privatbesitz beschlagnahmten Kunstwerke. Darüber gibt es keine Akten. Wenn wir jetzt einige Künstler wiederentdecken, müssen wir uns bewusst sein, dass es kein komplettes Bild geben kann. Es gibt zu viele Fragezeichen. Komplett rekonstruieren kann man die Geschichte nicht.