Essen. Dem ersten Insel-Roman “Wenn das Schlachten vorbei ist“, der doch arg unter seinem umweltaktivistischen Missionsdrang zu leiden hatte, lässt der US-Schriftsteller nun einen weiteren folgen: “San Miguel“ erzählt alte Geschichten von Flucht und Unglück und Menschen, die damit zu kämpfen haben.

Der amerikanische Schriftsteller T.C. Boyle gehört zu jenen gewissenhaften Menschen, die man gerne mit dem Wort akribisch beschreibt. Als er für seinen Roman „Wenn das Schlachten vorbei ist“ recherchierte, sich ganz den empfindlichen Ökosystemen, der Historie und Gegenwart der Santa-Barbara-Inseln vor der Küste Kaliforniens widmete – da stieß er auf die Tagebücher von Frauen, die zu verschiedenen Zeiten auf einer dieser Inseln gelebt haben.

Akribie ist das eine, Inspiration das andere: Mit dem Roman „San Miguel“ hat T.C. Boyle nun einer kleinen Insel und ihren Bewohnern, der Familie Lester und der Familie Waters, ein Denkmal gesetzt.

Der strenge Geruch nach Schaf überlagert alles. Als Marantha 1888 zum ersten Mal die Insel San Miguel betritt, als sie mit Adoptivtochter Edith und Ehemann Will die karge Holzhütte bezieht, scheinen ihre schlimmsten Alpträume wahr geworden. Und der Regen. Wie soll sie sich in der feuchten Luft von ihrer Krankheit, der Schwindsucht, erholen?

Marantha Waters ist die erste von drei Erzählerinnen, mit deren Augen wir den eigentlichen Hauptdarsteller des Romans sehen: die Insel. Dieses Stückchen Land mit Strand und kargen Felsen, mit Robben, Möwen, Raben und Schafen. Das für die Bewohner Hoffnung verheißt oder Verzweiflung, zum Gefängnis oder zum weltentrückten Fluchtpunkt wird.

Vielschichte Schilderung, wie der Kampf einer Frau verloren geht

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Marantha kämpft, weil sie eine gute Ehefrau sein will, weil Kriegsveteran Will hier mit eigenen Händen seinem Schicksal eine neue Wendung geben will. Wie sie ihren Kampf verliert, das schildert Boyle vielschichtig. So muss Marantha mitansehen, wie Tochter Edith sich auf seltsame, erotische Machtspiele mit dem Schäfersjungen Jimmie einlässt – und erleben, dass ihr Ehemann sie mit der Küchenhilfe betrügt.

Die Familie kehrt schließlich aufs Festland zurück, nach Maranthas Tod aber zwingt Will Edith erneut zum Leben auf der kargen Insel. Edith gehört der zweite, kurze Teil des Romans. Ihre Sehnsucht nach der Welt dort draußen führt dazu, dass sie sich, Jimmie zum Trotz, einem Mann an den Hals wirft: nur für die Gunst einer Bootsfahrt zum Festland.

Sie wird, das erfahren wir später von einem in die Jahre gekommenen Jimmie, der der Insel treu bleibt: Schauspielerin.

In der Wirtschaftskrise wird die mit Schafen bevölkerte Insel zum Rettungsanker

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1930 ziehen Elise und Herbie Lester auf die Insel und hier zwei Töchter groß. Zeitungen und Magazine feiern sie für ihr wagemutiges Leben in der „Wildnis“. In der Wirtschaftskrise wird die mit Schafen bevölkerte Insel zum Rettungsanker. Dann aber dringt, mit einem Radio und einem Stromgenerator, die Welt bis zu den Lesters – und mit der Welt der Krieg. Es sind dann aber gar nicht die großen Katastrophen, sondern die kleinen Unglücke, die falschen Bewegungen und unbedachten Sätze, die die Lesters um ihr Glück bringen.

Im Gegensatz zu seinem ersten Insel-Roman über das Ökosystem der Anacapa-Insel wird der ansonsten so umweltaktivistische Autor Boyle hier nicht erkennbar von missionarischem Eifer getrieben – außer jenem, gute, authentische Geschichten zu erzählen. Und das gelingt ihm: „San Miguel“ lässt uns salzige Gischt riechen, das Rufen der Möwen hören, den Schweiß der Schaf-Scherer sehen. Ein Roman, der wie eine Insel herausragt aus dem Meer der bedeutungslosen Wortströme unserer Zeit.

T.C. Boyle: San Miguel. Hanser, 448 S., 22,90 €