Essen. Die Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff, die mit ihrem Abgang aus dem Suhrkamp Verlag droht, falls dort Hans Barlach den Machtkampf gewinnt, im Gespräch über Literatur, die erlitten ist und von Wundern erzählt. Die Literatur hat für sie den Bilder-Medien voraus, dass sich der Kopf viel aktiver mit ihr auseinandersetzen muss.
Die deutsche Gegenwartsliteratur wäre um einige Wunder ärmer, gäbe es Sibylle Lewitscharoff nicht. Im Oktober wird die Autorin mit deutsch-bulgarischen Wurzeln den Georg-Büchner-Preis entgegennehmen, die wichtigste literarische Auszeichnung in Deutschland. Mit Britta Heidemann sprach sie über Zauber und Leid in der Literatur.
Frau Lewitscharoff, was verbindet Sie mit Georg Büchner?
Sibylle Lewitscharoff: Nicht allzu viel. Das ist kein Herzensautor, der mir lachend entgegen spränge.
Empfinden Sie selbst Ihre Arbeit als politisch?
Lewitscharoff: Ich nehme in meinen Romanen nicht politisch Stellung; vielleicht ein wenig in Bezug auf Bulgarien. Aber als Privatperson bin ich sehr wohl ein politischer Mensch – ich gehörte ja zur Jugendmannschaft der 68er, auch wenn ich das recht schnell wieder los wurde. Aber man kann nicht in einer Gesellschaft leben, ohne über sie nachzudenken. Jede Gesellschaft produziert irgendeinen Unflat, der empörend ist. Selbst in einer ja relativ gut funktionierenden Demokratie, die wir ja gottlob haben.
Was empört Sie beispielsweise?
Lewitscharoff: Wenn gut 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung kaum mehr teilnehmen an einer guten Ausbildung, der Hoffnung auf ein besseres Leben. Das ist schon ein Problem.
Sie wurden zuletzt oft als kulturkonservativ bezeichnet. Wie würden Sie selbst sich heute politisch verorten, wenn man das überhaupt noch kann?
Lewitscharoff: In Reinkultur kann man das natürlich heute nicht mehr. Ich bin beides (lacht). In sozialpolitischen Dingen bin ich natürlich eher bei der SPD. Ich habe Mitgefühl für Menschen, die ein hartes Tagwerk zu bestreiten haben. Und wünsche mir auch, ganz klar, Verbesserungen. Etwa, was die schulische Integration von muslimischen Kindern angeht. Aber dafür muss man noch nicht einmal links sein! In Bezug auf gewisse kulturelle Verfasstheiten kann man mich hingegen durchaus als konservativ bezeichnen. Da mache ich vieles, was den modernen Firlefanz ausmacht, nicht mit.
Was ist denn moderner Firlefanz?
Lewitscharoff: Etwa die Vermischung sämtlicher Sphären der verschiedenen Kunstformen – dass das Theater anfängt, Videos zu produzieren und ständig einzuspielen. Das halte ich für groben Unfug. Jede Kunstform sollte sich auf ihren wesentlichen Gehalt besinnen.
Welche Rolle könnte Literatur heute noch haben, bei aller medialen Überflutung?
Lewitscharoff: Die Literatur hat eines den bildgebenden Medien voraus, sie ist aktiver – in dem Sinne, dass sich der Kopf ganz anders mit ihr auseinandersetzen muss. Die Literatur wandert ganz anders in Sie ein. Meines Erachtens macht es auch einen Unterschied, ob Sie elektronisch lesen. Das ist viel flüchtiger. Das Buch als haptisches Objekt formiert das Gedächtnis, es dient sehr viel mehr als Gedächtnisstütze. Dass das im Schwinden begriffen ist, macht mir Sorge.
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Ihre Romane sind geprägt von Wundern – ist das ein Kommentar zur Realität oder ein Kommentar zur Literatur?
Lewitscharoff: In der deutschen Nachkriegsliteratur gibt es diese Tradition sicherlich nicht, aber in der südamerikanischen Literatur, die auf mich großen Einfluss hatte. Diese Art von Literatur bildet etwas ab, was den Menschen bestimmt: Wir sind zwar realitätsnahe Geschöpfe, wir müssen die Realität wahrnehmen, sonst kommen wir nicht durch. Auf der anderen Seite sind wir sehr fantastische Wesen. Selbst ein sehr nüchterner Mensch hat seine fantastischen Ausflüge im Kopf. Ich finde, die Literatur ist prädestiniert dafür, diese andere Seite zu betrachten.
Sie haben relativ spät Ihren ersten Roman veröffentlicht – könnten Sie auch ein Leben ohne das Schreiben vorstellen?
Lewitscharoff: Das hat es nie gegeben, ich habe schon in der Schulzeit einen Roman geschrieben. Das war schon eine Leidenschaft. Aber es hat sehr lange Zeit nicht funktioniert, es war einfach nicht gut.
Sagte wer?
Lewitscharoff: Ich. In einem kann ich mich schon ein bisschen loben: Ich war von Jugend an eine sehr ausgefuchste Leserin. Wenn Sie da Ihre Tassen im Schrank haben, dann wissen Sie, dass Ihre eigenen Versuche vielleicht ein bisschen arg schwächlich sind. Diese Zweifel sollte man schon haben. Man sollte auch als junger Mensch ahnen, was ein gutes Werk ist.
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Widerspricht diese Haltung nicht der deutschen Idee eines Genies, eines Menschen, der das alles locker aus dem Handgelenk schüttelt?
Lewitscharoff: Die Genies haben das nie locker aus dem Handgelenk geschüttelt. Der einzige, dem man nachsagen kann, dass er in etwas heiterer Weise schöpferisch tätig war, war Johann Wolfgang von Goethe. Aber denken Sie an Kleist, an Jean Paul – ihr Werk ist großen Verwerfungen abgerungen.
Sie selbst haben mit Mitte 30 eine schwere Erkrankung durchlitten. Sind solche Einschnitte ein Antrieb?
Lewitscharoff: Sicherlich. Mit dem Tod konfrontiert zu werden, zu erleben, wie eine Liebesgeschichte in die Brüche geht oder wie eine berufliche Karriere scheitert, das alles sind Lebenserfahrungen. Und meines Erachtens wesentlich, um beim Schreiben so etwas wie Fleisch an der Supp’ zu bekommen. Es gibt junge Leute, denen aus dem Unbändigen heraus, jung zu sein und sehr viel zu wollen, mal etwas Gutes gelingt. Dazu gehörte ich aber vom Charakter her nicht.
In Ihrer Jugend mussten Sie erleben, dass Ihr Vater Selbstmord beging. Können Sie ausmachen, inwieweit Sie das geprägt hat?
Lewitscharoff: Ich weiß eigentlich nicht genau, wie es mich geprägt hat, denn ich weiß ja nicht, wie es gewesen wäre, wenn er am Leben geblieben wäre. Ich denke, mein Leben hätte einen ganz anderen Verlauf genommen – aber ich kann es nicht beweisen. Solche Lebensdramatik, die mich da mit elf Jahren erwischt hat, hat sicherlich die Flucht oder die Bewegung ins Literarische noch verstärkt.
Hat Literatur immer auch mit Leiden zu tun hat, mit Leidensbewältigung?
Lewitscharoff: Ja, in gewisser Weise schon. Jeder Mensch leidet. Eine Literatur, die einen habhaften Zugriff auf ihre Leser hat, die sich in den Charakteren des Menschlichen auskennt, die muss davon etwas mitteilen. Daran knüpft der Leser an, auch wenn ihm das vielleicht gar nicht so bewusst wird. Literatur muss nicht vor Katastrophen strotzen, das hat damit nichts zu tun. Sie muss aber von den Gefährdungen des Menschen wissen und davon erzählen können.