Essen. Seine Filme sind Reisen zu ganz besonderen Menschen, angenehm in den seltensten Fällen. Nun widmet sich der ehemalige Dokumentarfilmer Ulrich Seidl extremen Formen katholischer Religiosität. Sein Film erboste in Venedig Christen, sie stellten Strafantrag wegen „Blasphemie“.

Manchmal, am Abend, betritt Anna Maria einen kleinen Raum in ihrer Wohnung, entblößt den Oberkörper vor einem an der Wand hängenden Kruzifix und beginnt sich mit starrem Blick auf ihren geliebten Jesus mit harten Schlägen zu geißeln. So lernen wir sie kennen, die erzkonservative Katholikin, Hauptfigur in Ulrich Seidls Film „Paradies: Glaube“. Der Doppelpunkt verweist darauf, dass es sich hier um eine Trilogie handelt. Im ersten Teil („Liebe“) begleitet man die füllige Teresa auf ihren Weg nach Kenia, wo sie in den Armen käuflicher Männer ihre Befriedigung sucht. Anna Maria nun ist die ältere Schwester der Liebessucherin – sie könnte unterschiedlicher kaum sein.

Auf Knien büßend durch die Wohnung rutschen

Die Schauspielerin Maria Hof­stätter führt sie uns in ihrer ganzen religiösen Verkrampftheit vor. Wie sie als Buße auf Knien durch die Wohnung rutscht, bis es den Betrachter selbst zu schmerzen beginnt. Wie sie im Urlaub mit einer Marienstatue wildfremde Leute besucht, um sie zum rechten Glauben zu bekehren. Wie sie bei Jesus Befriedigung zu finden hofft, wenn sie ihn förmlich anhimmelt und von seinen schönen Augen schwärmt, in die sie sich verlieren könnte. Wie sie einmal dieser Lust am Erlöser nachgibt und mit Hilfe des Kruzifixes zu masturbieren beginnt. Das war einigen Katholiken bei der Aufführung des Films im Rahmen der Filmfestspiele von Venedig denn doch zu viel: Sie stellten Strafantrag wegen Blasphemie.

Auf den ersten Blick ist Ulrich Seidl ein unentwegter Sucher nach dem hässlichen Österreicher. Im dritten Teil („Hoffnung“), der Mitte Mai in unsere Kinos kommt, wird man beispielsweise stark übergewichtigen Teenagern in einem Abmagerungscamp begegnen. Tatsächlich aber fischt der ehemalige Dokumentarist, der inzwischen doch verstärkt auf Schauspieler zurückgreift, einfach nach Menschen mit nicht ganz alltäglichen Sehnsüchten. In manchen von ihnen wird sich auch der Zuschauer erschrocken wiederfinden. Nicht zufällig konnte Seidl die einzelnen Teile seiner „Paradies“-Trilogie jeweils auf den Festivals in Cannes, Venedig und zuletzt Berlin platzieren.

Grabenkrieg mit muslimischem Ehemann

Das eigentliche Drama der durch nichts in ihrem Glauben zu erschütternden Anna Maria beginnt mit der plötzlichen Rückkehr ihres muslimischen Ehemannes Nabil. Den Querschnittgelähmten lässt Seidl zwar wie einen Deus ex machina mit seinem Rollstuhl in den Film plumpsen, aber damit beginnt für seine Protagonistin ein wahrer Grabenkrieg. Nabil entfernt die Massen an Devotionalien aus der Wohnung, er klagt sogar seine ehelichen Rechte ein. Da steht die Gläubige dann plötzlich und weiß gegen all dies eigentlich nur noch mit Gewalt zu antworten.

Seidl erklärt dem Zuschauer nichts von diesem Mann, der zwischenzeitlich wieder bei seiner Familie gelebt haben muss. Er benutzt ihn nur, um eine im Glauben sich gefestigt fühlende Frau sprach- und ratlos erscheinen zu lassen. Vielleicht ist es dieses Benutzen seiner Figuren, die uns gelegentlich zu Seidls Filmen doch auf Distanz gehen lassen.