Essen. Das Jammern über den Verfall der deutschen Sprache ist nicht neu. Dabei geht es dem in der Geschichte schon häufig zu Grabe getragenen Patienten gut. Wandel in der Sprache ist normal, führt aber zu Verunsicherung. Die Rufe nach einem "Sprachschutzgesetz" werden lauter.
„Retourbillet?” Der preußische Bahnbeamte raunzt den Fahrgast an: „Hier gibt es nur Rückfahrkarten!” Und aus dem Perron wurde der Bahnsteig, aus Coupe´ das Abteil und eine Barriere hieß gefälligst Schranke! Gründlich wurde die deutsche Sprache auf Betreiben des „Allgemeinen Deutschen Sprachvereins” von den schändlichen Spuren des damals modischen Französisch gereinigt, das in seine Rede einflocht, wer gebildet und weltläufig erscheinen wollte. Das war gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Heute sehen viele erneut die deutsche Sprache bedroht, diesmal durch Amerika.
Unsere Sprache geht vor die Hunde, davon sind nach einer Umfrage des Allensbach-Instituts 65 Prozent der Deutschen überzeugt. Vor allem die Jugend beherrsche weder eine korrekte Grammatik noch die Rechtschreibung, und überhaupt verhunze sie die Sprache mit ihrem geistlosen Kauderwelsch.
Wer dagegen meint, der Sprache gehe es gut und Wandel sei normal, erntet mindestens Unmut, nicht selten Wut, wird als dumm und unsensibel verunglimpft – und sei es der Vorsitzende der Gesellschaft für deutsche Sprache: Prof. Rudolf Hoberg. Der Sprachwissenschaftler hat dies bei seinen Vorträgen oft genug erleben müssen.
Einen Sprachverfall gibt es nicht
Seinen Artikel in den neuen „Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes” hat er dennoch mit der Überschrift versehen: „Die deutsche Sprache wächst, blüht und gedeiht”. Gegen die allgemeine Überzeugung ist sein wissenschaftlicher Befund: „Einen Sprachverfall gibt es nicht.” Im Gegenteil, „noch nie war der Wortschatz so groß und differenziert wie heute”.
Klagen über den Sprachverfall seien typisch für die ältere Generation, so Hoberg. Man wisse zwar, dass sich Sprache verändere, doch soll dies bitteschön nicht während der eigenen Lebenszeit passieren. Veränderungen stören halt. Als Idealbild gelte dieser Generation jeweils das Deutsch, das sie einst in der Schule lernte – danach ging es bergab. Jüngere haben damit weniger Probleme. Mit 14 weiß man ja nicht, dass es „cool” früher nicht gab.
Der Autor Hermann Unterstöger rät in seinem Beitrag in den „Mitteilungen” zu mehr Gelassenheit im Wind des Wandels. Unterstöger erinnert an die Worte Humboldts, wonach Sprache „etwas beständig und in jedem Augenblick Vorübergehendes” sei, kein fertiges Werk, „sondern eine Tätigkeit”. Unterstöger: „Im Gegensatz dazu hängen die Sprachwahrer und Wortwarte der Vorstellung an, die Sprache habe irgendwann den besten aller möglichen Zustände erreicht und könne von da an durch Neuerungen nur noch verlieren.” Für diese Kritiker sei es typisch, dass dieses Ideal meist mit dem eigenen Sprachvermögen übereinstimme.
Suche nach Sicherheit
Doch woraus speist sich die verbreitete Auffassung, das Deutsche würde verkommen? Dr. Falco Pfalzgraf beobachtet die Debatte aus dem Ausland. Der Sprachwissenschaftler forscht am Queen Mary College an der University of London und stellte fest, dass sich um die deutsche Wendezeit 1989 zahlreiche Sprachvereine gründeten. Der größte ist mit heute 30 000 Mitgliedern der Verein Deutsche Sprache (VDS) in Dortmund. Pfalzgraf erkennt einen „Neo-Purismus” in Deutschland nach der Wende mit einem stark nationalen Zungenschlag. „Die Angst vor dem Verlust der Sprache ist Teil der Furcht vor dem Verlust eigener Werte und Kultur”, sagt Pfalzgraf.
Der Zerfall der bekannten Ordnung durch den Fall der Mauer, das Ende des Ost-West-Konflikts, die neue Vorherrschaft der USA – all das habe zu einer kulturellen Verunsicherung geführt. Hinzu kam eine schlechtere Wirtschaftslage und eine wachsende soziale Unsicherheit. Kurz: Deutschland rutschte in eine Identitätskrise. „Die Rückbesinnung auf die eigene Kultur und Sprache ist der Versuch, wieder sicheres Terrain zu gewinnen.” Auch deshalb habe es ernsthafte Bestrebungen gegeben, Deutsch als Staatssprache ins Grundgesetz aufzunehmen und ein „Sprachschutzgesetz” auf den Weg zu bringen
Schon Plato habe den Sprachverfall bejammert, sagt Pfalzgraf. Dabei seien Veränderungen weder schlecht noch gut. „Es ist eben so. Und es muss so sein. Wie ein Baum wächst.”