Bayreuth. Erstmals ist der gebürtige Gelsenkirchener Torsten Kerl in einer Titelrolle bei den Bayreuther Festspielen zu Gast. Der Startenor singt Wagners „Tannhäuser“. Ein Interview mit dem bodenständigen Sänger, der seine Wurzeln zum Revier nicht gekappt hat.

Der „Holländer“ mit dem NS-Tattoo musste die Koffer packen, im Fall des Bayreuther „Tannhäuser“ wird ein Tenor aus Gelsenkirchen die Festspiele sicher nicht im Stich lassen. Torsten Kerl hat Weltkarriere gemacht, singt die großen Partien von Wien bis Paris. Ein ganzer Kerl dank Wagner: Lars von der Gönna traf ihn zum Gespräch über den Mythos Bayreuth, Helden in Unterhosen und Kunst als Marathon.

Sie haben schon früher auf dem Grünen Hügel gesungen. Aber die Titelrolle einer Wagneroper, das ist neu. Sind Sie aufgeregt?

Kerl: Ehrlich: Ich war es viel mehr, als ich hier angefangen habe. Ich war Anfänger, da brach alles auf mich ein: das berühmte Haus, die legendäre Akustik, große Dirigenten und natürlich Wolfgang Wagner.

„Wolfgang Wagner kannte alle Sänger beim Namen“

Wer war Wolfgang Wagner für Sie?

Kerl: Toll fand ich das Väterliche an ihm. Es war ein Mensch, der sich unglaublich gekümmert hat, der alle Sänger beim Namen kannte, selbst wenn sie so „Würstchen“ wie ich waren, also gerade erst anfingen. Es gab für jeden Blumen aufs Zimmer mit „Herzlich Willkommen!“ Man konnte ihn ansprechen, er fühlte sich verantwortlich. Beeindruckend! Das versuchen Katharina und Eva Wagner auch, ich finde, sie machen das ganz gut.

Es ist schick geworden, zu sagen, Bayreuth sei nichts Besonderes mehr: Solchen Wagner könne man überall hören. Was denken Sie?

Kerl: Die Akustik und der verborgene Orchestergraben, das bleibt einzigartig. Aber auch das „gecastete“ Orchester aus Musikern, die ganz viel Erfahrung mit Wagner haben und nur dafür zusammenkommen.

„Etwas Neues, das kann natürlich auch in die Hose gehen“

Im aktuellen „Tannhäuser“ singen Sie vor riesigen Gasröhren...

Kerl: Das Thema kennen Sie auch vom Aalto-Theater oder anderen Häusern. Man muss sich entscheiden: Entweder machen wir es konventionell oder wir versuchen was Neues. Das kann natürlich auch in die Hose gehen.

Hand aufs Herz: Ihnen gefällt doch auch nicht jede Inszenierung...

Kerl: So ist es. Der Unterschied zu einem Laien, der sich das anguckt und sein Urteil fällt ist: Als Profi muss man sich davon freimachen, nur in seinen liebsten Inszenierungen singen zu können. Für mich ist wichtig, dass ich unvoreingenommen daran gehe. Ich lasse mir Konzepte erklären, versuche die Linie zu erkennen und zu verstehen.

Aber Sie sind auch kein Untertan, der sich nie wehrt...

Kerl: Als klar war, dass ich hier den „Tannhäuser“ singen würde, wusste ich, dass ich bestimmte Dinge nicht tun werde, etwa in Unterhosen über die Bühne rennen. Wir haben darüber geredet und das gibt es jetzt auch nicht.

„Für Wagner muss man ein Marathon-Mann sein“

Erklären Sie mal Menschen, die wenig von Oper wissen, was ein guter Wagner-Tenor dringend braucht.

Kerl: Erstens: Man muss mit anderen Sachen beginnen. Niemand kann mit Wagner anfangen. Das sind gewaltige Herausforderungen. Zweitens: Auch beim Singen gibt es Sprinter und Langstreckenläufer. Es ist klar, dass man für Wagner eher ein Marathon-Mann sein muss. Gucken Sie sich mal anderthalb „Siegfried“-Akte an: Da geht Verdis kompletter „Otello“ rein.

Drittens: Es ist eine völlig andere Art zu singen als etwa italienische Oper, wo sie eine Arie haben, dann Pause, ein Duett, Pause... Wagner zu singen, heißt eine große, endlose Melodie zu singen. Viertens: Man muss sich sehr stark psychologisch mit den Rollen beschäftigen. Fünftens: Sie müssen gut darin sein, viel Text zu lernen – und den auch möglichst nicht wieder zu vergessen.

„Ich mag das Ruhrgebiet, diese eine große Stadt“

Sie stammen aus Gelsenkirchen, wohnen in Essen. Warum sind sie dem Revier treu geblieben?

Kerl: Ich habe sieben Jahre in Wien gelebt. Ich bin zurückgekehrt, ich mag das Ruhrgebiet, diese eine große Stadt, die Mentalität. Außerdem lebt meine Familie hier. Sie werden vielleicht überrascht sein, aber mir gefällt auch, dass es hier nicht so einen riesigen Kult um Opernsänger gibt wie in Wien, wo jede Umbesetzung gleich auf der Titelseite steht. So wichtig sind wir nun auch nicht; wir Opernsänger retten ja nicht jeden Tag die Welt. Die Welt der Oper und Theater in unserer Region sollten wir aber in jedem Fall retten! Es ist falsch, Opern und Theater zu schließen und Kultur nur noch als subventionierten Kostenfaktor zu sehen, den man kaputt spart. Eine Gesellschaft definiert sich auch über ihre Kultur.