Essen. Julia Franck ist Künstlerin, Schriftstellerin, streitbare Feministin – und zweifache Mutter, was nicht immer ganz einfach ist. Ein Interview über Frauenbilder, arbeitende Mütter und den Muttertag.
Künstlerin sein und Mutter, geht das? Über Mutterrolle und Frauenbilder sprach WAZ-Redakteurin Britta Heidemann mit Autorin Julia Franck – morgens, während die Kinder der Schriftstellerin, sechs und acht Jahre alt, Kita und Schule besuchten.
In Ihrem Roman Die Mittagsfrau setzt eine Frau ihren Sohn auf einem Bahnhof aus – dies ist eine schreckliche, eindrückliche Szene, die sich in ihrer Familiengeschichte tatsächlich so abgespielt hat. Wie nähert man sich einem solchen Thema?
Julia Franck: Es hat mich mein Leben lang beschäftigt, was die Gründe gewesen sein könnten, dass meine so genannte Großmutter den Jungen, der mein Vater werden sollte, 1945 im Alter von sieben Jahren auf einem kleinen Bahnhof zurückließ. Sie hatte ihn alleine durch die Kriegsjahre in Stettin gebracht, das Schlimmste war überstanden. Ich stelle mir vor, dass sie eine enge Bindung gehabt haben müssen. Mein Vater hatte für ihre Tat keine Erklärung, er wollte auch später keinen Kontakt mehr zu ihr. Das Schlimmste war eben nicht überstanden, das Schlimmste wirkt weiter, zerstört den Menschen.
Sie kennen Ihre Großmutter gar nicht?
Julia Franck: Nein. Es gelang mir in den 90er-Jahren herauszufinden, wo sie zuletzt gelebt hatte. Sie hatte in ihrem Testament ein Ehepaar als Alleinerben eingesetzt, das waren ihre engsten Bekannten – und doch wussten die beiden nichts davon, dass sie ein Kind hatte. Die Frage nach diesem absoluten Auslöschen eines Kindes, für das sie sieben Jahre lang alleine verantwortlich war, das war die Frage, der ich mich in meinem Buch nähern wollte. Aber eben nicht populärpsychologisch oder moralisch, sondern beschreibend, erzählend. Ich merkte dabei sehr schnell, dass es um die Frage geht, ob die Mutterrolle genetisch oder gesellschaftlich festgelegt ist.
Was ist Ihre Antwort?
Julia Franck: Gesellschaftlich.
Sie werden, unter anderem vom „Spiegel“ zum neuen künstlerischen Feminismus gezählt – gibt es da ein Manifest?
Julia Franck: Wir sind keine Gruppe, zu solchen Aktivitäten fehlt mir schlicht die Zeit. Die berufliche, finanzielle und familiäre Situation künstlerisch arbeitender Frauen mit Kindern ist die am wenigsten gesicherte. Wer sorgte für Katharina Thalbachs Kind, wenn sie auf der Bühne stand? Wer für die Kinder von Sasha Waltz, wenn sie über Wochen Tag und Nacht ihre großen Choreographien erarbeitet? Wer hat die Tochter von Doris Dörrie während wochenlanger Dreharbeiten versorgt? Im besten Fall sind die Väter ihrer Kinder emanzipiert, selbstbewusst und fürsorglich. Aber wenn der auch fehlt? Wer zahlt bei Krankheit der Künstlerin ihre Miete?
Wie geht das: Künstlerin und Mutter sein?
Julia Franck: Mit den allergrößten Anstrengungen. Als allein stehende, berufstätige Mutter fühle ich mich ständig unzulänglich und muss auf vieles verzichten: auf bestimmte Zeiten mit meinen Kindern und auch darauf, die Sorgen und Freuden zu teilen. Ich arbeite tagsüber sieben Stunden, hole meine Kinder um 16 Uhr vom Hort ab und arbeite abends noch einmal, bis Mitternacht. Zwei Tage in der Woche und manchmal auch dann, wenn ich für mehrere Tage am Stück auf Lesereisen bin, wohnen die Kinder bei ihrem Vater. Geht das nicht, beschäftige ich Kinderfrauen. Über 80 % der Einladungen zu Lesereisen, ins Fernsehen oder sonst wohin muss ich ausschlagen, weil die Zeit fehlt. Sehe ich meine Kinder länger als zwei, drei Tage nicht, vermisse ich sie, leide und empfinde jedes einsame Hotelzimmer als Zumutung. Bis vor zwei Jahren habe ich meinen Verdienst oft eins zu eins an die Kinderfrauen weitergegeben, das ist erst mit dem Erfolg meines letzten Romans anders geworden. Ich würde gerne mal einem Finanzminister erklären, in welchen prekären Verhältnissen allein erziehende Mütter sich befinden.
Haben Sie Vorurteile gespürt?
Julia Franck: Ich bin oft mit einem scharfen Blick angeschaut worden, bei einer Romanvorstellung vor sechs Jahren wurde ich vor laufender Fernsehkamera gefragt, ob ich eine Rabenmutter sei. Darin schwingt der Gedanke mit, Berufstätigkeit der Mütter schade den Kindern. Frauen, die alles vereinen wollen, werden als anmaßend empfunden. Auch Neid und Missgunst unter Frauen ist weit verbreitet. Dabei denke ich, es gibt hier kein richtigeres oder besseres Modell, jede Familie sollte für sich entscheiden sollen. Es ist schön, wenn eine Frau geliebt wird, und in Ordnung, wenn diese Frau sagt, meine Ehe läuft so gut, ich bin gern nur mit meinen Kindern zusammen, wasche unser aller Wäsche, putze unsere Wohnung, bleibe ganz zuhause und mein Mann arbeitet. Denken wir nicht an die Scheidung. Auch gibt es viele Menschen, die keine Kinder bekommen wollen oder können – sie werden in der Mutterdiskussion vernachlässigt. Dabei sind sie häufig die fürsorglichsten und liebevollsten, die mütterlichsten Partner für die Menschen ihrer Umgebung, insbesondere für solche, denen die leiblichen Eltern abhanden gekommen sind.
Sie haben einmal gesagt, Sie hätten die Zeit, in der Ihre Mutter berufstätig war, als glücklicher empfunden als jene, in der sie keine Arbeit hatte und zuhause war.
Julia Franck: Das hängt mit der Würde zusammen. Meine Mutter war allein erziehend mit fünf Töchtern, wir haben über Jahre von der Sozialhilfe gelebt, weil sie im Westen in ihrem Beruf als Schauspielerin mit fünf Kindern nicht vermittelbar war. Das war für uns alle entwürdigend. Erst nach der Wende wurde ihr eine Umschulung gestattet, heute arbeitet sie als Theaterpädagogin. Von ihrer Rente allein könnte sie nicht einmal ihre Miete bezahlen.
Was bedeutet Ihnen der Muttertag?
Julia Franck: Ich kann mich daran erinnern, dass meine Mutter beschämt war, wenn wir ihr zum Muttertag etwas Selbstgebasteltes aus dem Kindergarten schenkten. Sie fand sich nicht so feierungswürdig. Ich freue mich schon, aber nicht, weil ich mich als Mutter der Nation gefeiert wissen will – sondern weil meine Kinder mir sagen, dass sie mich lieben. Das sagen und zeigen sie mir allerdings an vielen anderen Tagen auch; und ich ihnen.