Los Angeles. Die englische Soul-Königin „Adele“ gewinnt sechs Grammys bei der Leistungsschau der Musikindustrie in Los Angeles. Der Tod von Whitney Houston spielte nur eine Nebenrolle. Lady Gaga zeigt sich bei den Grammys in einer Gesichts-Gefängnis-Korsage.
Es war sozusagen eine Feier am offenen Sarg. Schockiert vom Tod einer der (besten) Ihren absolvierte die amerikanische Musikindustrie gestern Abend zum 54. Mal das große Grammy-Ritual. Der Auszeichnungs-Marathon im Staples-Center von Los Angeles, bei dem Preise in Gestalt goldener Grammophone für die besten Hervorbringungen des vergangenen Jahres vergeben wurden, begann am Tag nach dem Tod von Gesangs-Diva Whitney Houston (48) respektvoll und standesgemäß.
Musikbranche beklagt "Todesfall in unserer Familie"
LL Cool J, Hip-Hopper alter Schule und Moderator, verkündete zum Auftakt der weltweit übertragenen Leistungsshow mit getragener Stimme: „Wir haben einen Todesfall in unserer Familie. Und der einzig richtige Weg, solch einen Abend zu beginnen, ist ein Gebet. Ein Gebet für jemanden, den wir lieben: Unsere Schwester Whitney Houston.“ Es folgten Video-Ausschnitte von Houstons Jahrhundert-Erfolg „I Will Always Love You“. Danach Standing Ovations. Vereinzelt wurden Tränen verdrückt. Das war’s aber dann auch schon mit der inneren Einkehr.
The show, heißt schließlich die Branchenregel, must go on. Schließlich, so LL Cool J, „ist diese Nacht größer als jeder hier von uns“. Warum die Organisatoren vor den Respektsbekundungen für Houston Bruce Springsteen mit seinem politischen Kraftmeiersong „We Take Care Of Our Own“ als Eisbrecher auf die Bühne beordeten, leuchtete trotzdem nicht so ganz ein. Egal. Ab dann ging es Schlag auf Schlag in dieser an Überforderungen übervollen Nummern-Revue.
Neo-Soul-Wuchtbrumme Adele hat Stimmband-OP überstanden
Alicia Keys und Bonnie Raitt erwiesen mit einer herrlich zurückhaltenden Version von „Sunday Kind of Love“ der unlängst für immer abgetretenen Blues-Heldin Etta James die Ehre, bevor sie die britische Neo-Soul-Wuchtbrumme Adele mit dem ersten Grammy für das wunderbare „Rolling In The Deep“ belohnten. Die Geehrte im langen Schwarzen, bedankte sich mit roten Lippen und langen, schwarzen Wimpern kurz und bündig. Dann ging’s zum Umziehen. Selber singen. Es war ihr erster Auftritt nach überstandener Stimmband-Operation. Boah! Der Chirurg hat einen Extra-Grammy verdient.
Vieles war wie immer, seit die Show 1959 begann und ein gewisser Henry Mancini absahnte. Echte Überraschungen gab es auch diesmal keine. Die Gewinner der wichtigen Kategorien sind aus den Verkaufsranglisten des Vorjahres bekannt. Geehrt wird pi mal Daumen, was man kennt. Die Grammys sind darum nie wirklich mehr als eine etwas opulent ausfallende Betriebsfeier, bei der wie im aktuellen Fall tüchtig der zu früh Gestorbenen gedacht und ordentlich gesungen wird. In den Umbaupausen lobt sich die Musikbranche selbst und ihre verdienstvollsten Vertreter in den Himmel und lässt sich dabei von der ganzen Fernsehwelt über die Schulter gucken.
Beach Boys bei den Grammys
Zu entscheiden hatte sich die musikologische Schwarmintelligenz - 11.000 Musiker, Produzenten und Tontechniker der National Academy of Recording Arts and Sciences (Naras) sind letztlich die Juroren - diesmal anhand von 18.000 ursprünglich eingesendeten Beiträgen. Nach der ersten Auslese blieben 390 Songs über, die diesmal in 78 Kategorien zu benoten waren. Weil es im Vorjahr noch 109 waren, waren Vertreter von 31 Kategorien verständlicherweise stinksauer, darunter die Lobbyisten des weithin unterschätzten hawaiianischen Liedguts. Einige haben Klagen eingereicht.
Weil sich schon seit Tagen hartnäckig der Eindruck festgesetzt hatte, dass die liebenswürdige, rotzig-charmante Adele eh die meisten Grammophönchen von Belang (Lied des Jahres, Album des Jahres, Aufnahme des Jahres etc.) mit nach Hause nehmen würde, was bei ihrer Stimme/Ausstrahlung auch völlig in Ordnung ging, konzentrierte sich das Interesse auf das, was seit Jahren zur Grammy-Folklore gehört: die Seniorenpflege. Und so geschah es, dass Maroon 5 eine falsettiges „Little Surfer Girl“ zum Besten geben durften, bevor die echten, inzwischen uralten „Beach Boys“ wieder Bühnensand unter die Füße bekamen. Die Begegnung mit dem erratisch am Piano sitzenden und ins Leere starrenden Brian Wilson und seinen nicht minder gesichtsfaltigen Mitstreitern Mike Love & Co., die nach 50 Jahren bald wieder gemeinsam auf Tournee gehen, geriet bizarr: „Good Vibrations“ im Senioren-Heim-Tempo. Gewöhnungsbedürftig.
Lady Gaga tritt in Gesichts-Gefängnis-Korsage auf
Auch eine andere Oldie-Aufführung löste zwiespältige Gefühle aus. Angesagt von dem uneingeschränkt wunderbaren Stevie Wonder, der auf der Mundharmonika aus dem Handgelenk Beatles „Love Me Do“ anstimmte, setzte sich später Paul McCartney im weißen Gigolo-Blazer auf den Barhocker und gab, von Streichern, Bläsern und Diana Krall am Piano unterstützt, „My Valentine“ zu Gehör. Nix zum Verlieben. Was sonst noch war?
Lady Gaga hatte das mit Abstand vielsagendste Kostüm aus dem Schrank geklaubt; eine Art Gesichts-Gefängnis-Korsage. Chris Brown, rechtskräftig verurteilter Rihanna- und also Frauenverprügeler, durfte ein sehr belangloses Lied singen und dabei über Pappkarton-Treppen tanzen, später bekam er ein Grammy für das beste R & B-Album. Kurz darauf sangen besagte Rihanna und die Bombast-Pop-Arbeiter von „Coldplay“ sehr hübsch aufeinander ein.
Foo Fighters für besten Rock-Song mit Grammy geehrt
Die Edel-Rapper Jay-Z und Kanye West bekamen ihren Preis fürs Best-Gerapte in Abwesenheit verliehen, Lady Antebellum (bestes Country-Album) waren hingegen zur Stelle. Die Indie-Retro-Folk-Rocker Bon Iver um den mit sehr schön schütterem Haar gesegneten Leadsänger Justin Vernon sind nun für ein Jahr die besten Newcomer.
Unterdessen heizten die enorm druckvollen „Foo Fighters“, zurecht belohnt mit einem Grammy für den besten Rock-Song, den Fans draußen vor der Halle ein. Auf deutschen Fensterbänken wird 2012 übrigens kein Grammy stehen. In fünf Kategorien (vor allem Klassik) waren Künstler aus „good old germany“ nominiert, fünf mal gingen sie leer aus. Nur eine Münchner Softwarefirma, die ein Computer-Programm für Tonstudios entwickelt hat, wurde mit einem Spezialpreis bedacht. Tolle Sache.
Jennifer Hudson sorgt für Gänsehaut-Moment mit Lied von Whitney Houston
Der Satz des Abends kam übrigens von David Grohl. Der Ober-Foo-Fighter hielt in seiner Danksagung eine schöne Lobrede auf ehrbares Hand- und Mundwerk in einer Branche, in der die turmhoch überschätzte Nicki Minaj eine abstoßend alberne Exorzisten-Rap-Nummer hinlegte. „In ein Mikrofon zu singen und sein Instrument zu beherrschen, mit Kopf und Herz bei der Sache zu sein“, sagte der frühere Nirvana-Drummer, „das ist das Wichtigste in unserem Geschäft.“
Womit man wieder am traurigen Ausgangspunkt des Abends angelangt wäre. Jennifer Hudson sorgte für Gänsehaut-Momente, als sie perfekt Whitney Houstons „I Will Always Love you“ intonierte. Eine Oktave tiefer zwar. Aber nicht weniger „bittersweet memories“ auslösend. Dabei hätten die Grammy-Granden es eigentlich belassen können. Der von Paul McCartney angeführte Gitarren-Gipfel zum Ausklang war einfach nicht der Hit.