Frankfurt. Die Frauenrechtlerin Seyran Ates fordert eine sexuelle Revolution des Islam – und eine Neuauslegung des Koran. Das Intimste, die Sexualität, gehöre jedem Menschen alleine, sagt sie: "Darüber darf keine Kirche wachen."

Die Berliner Anwältin Seyran Ates lebt seit ihrem sechsten Lebensjahr in Deutschland – theoretisch. Praktisch wuchs sie, wie so viele türkischstämmige Frauen, auf in einer Familie, die die westlichen Werte ablehnte. In einer Streitschrift deutet sie nun den Kulturkampf um: als Kampf um sexuelle Selbstbestimmung. Verbote, Ängste, Gewalt stünden dem entgegen, schreibt sie und fordert eine Revolution.

Frau Ates, sie verordnen – nach Gesprächen mit vielen muslimischen Mädchen und Frauen – dem Islam eine sexuelle Revolution. Wie kommen Sie dazu?

Seyran Ates: Das ist ein natürlicher Prozess, durch den jede Gesellschaft, jede Kultur geht, und zwar hin zu mehr Gleichberechtigung und Offenheit zwischen den Geschlechtern. Das Privateste und Intimste, die Sexualität, gehört jedem Menschen alleine – darüber darf keine Kirche wachen und in die Betten der Menschen hinein Regeln aufstellen.

Worin besteht die Doppelmoral, die Sie kritisieren?

Ates: Nach außen wird ein sehr moralisches, religiöses Leben gelebt. Mädchen dürfen keine Freunde haben, zum Beispiel, aber natürlich haben sie doch welche – heimlich. Auch Muslime feiern Partys, trinken Alkohol, haben Geliebte neben ihren Ehen oder Sex vor der Ehe. Auch Homosexualität existiert! Aber nach außen hin wird der Schein gewahrt.

Wollen Sie den Koran umschreiben?

Ates: Auf keinen Fall! Genausowenig wie es einst nötig war, die Bibel umzuschreiben, ist es nun nötig, den Koran umzuschreiben. Nötig wäre eine zeitgemäße Auslegung. Wir müssen uns die Frage stellen: Was hätte Mohammed heute dazu gessagt? Würde Mohammed es gutheißen, wenn Mädchen nicht auf Klassenfahrt gehen? Fände er es gut, wenn sie nicht zum Schwimmunterricht dürfen? Würde er es gutfinden, dass Frauen heute unter der Burka, dem Kopftuch versteckt werden? Ich glaube nicht. Ich glaube nicht, dass Gott das will.

Aber Sie glauben?

Ates: Ja, ich glaube. Auch wenn viele Muslime der Ansicht sind, dass Menschen wie ich nicht gläubig sind, wenn sie mich beschimpfen, beleidigen und kränken. Viele Muslime haben mehr Probleme damit, die Pluralität der islamischen Welt anzuerkennen, als es der Westen tut. Der Westen erkennt viel eher an, dass es von Marokko bis Indonesien verschiedene Ausprägungen des Islam gibt. Aber die Muslime selbst haben keinerlei Respekt und Toleranz füreinander.

Warum halten Sie am Islam fest, wenn Sie ihn doch so kritisch sehen?

Ates: Die Tradition des Islams in unserer Familie ist der Grund. Ich hatte keine extrem religiöse Erziehung, aber schon eine muslimisch tradierte. Es ist ein Teil meiner Kultur, meiner Identität. Das Orientalische und das Islamische sind in meiner Person.

Gibt es erste Reaktionen?

Ates: Ich habe bereits Hassmails bekommen. Aber es ist ja eine Streitschrift – ich will streiten.

  • Seyran Ates: Der Islam braucht eine sexuelle Revolution. Ullstein, 224 Seiten, 19,90 Euro