Ruhrgebiet. Expedition im Dunkel der Nacht durch Zechen, Stahlwerke und Halden im Ruhrgebiet. Die Extraschicht zog trotz durchwachsenen Wetters rund 150 000 Besucher an. An 40 Spielorten wurden Industrieanlagen zur Bühne für künstlerische Inszenierungen.
Es lohnt sich an diesem Abend, auch über Stock und Stein zu gehen, über Schlammflächen zu patschen, sich um finstere Ecken herumzudrücken, Expedition Dunkel.
Dann wird man etwa ganz hinten auf dem Gelände der früheren Zeche Lohberg in Dinslaken eine Kohlenhalle finden, wie man sie noch nie sah: Gigantisch und geschwungen, tausende Lichter flackern, Kerzen brennen, Herzen auch.
Da steht dann Siegmund Ehlert, der zum ersten Mal wieder hier ist seit dem 30. September 1989, dem Tag des Vorruhestands. „Mein Herz hängt hier dran”, sagt der 79-jährige Maschineningenieur mit Gehstock und Schutzhelm aus Voerde; da haben sie ihn glatt verpflichtet, den vielen Besuchern hier zu erzählen, wie es früher war auf der Zeche.
Licht und Schatten balgen sich
„Ich bin begeistert von der Resonanz und von den jungen Leuten”, sagt Ehlert. Später steht er kurz da ohne Helm; Lichter und Schatten balgen sich hinter ihm an der Wand, und ein bisschen sieht es aus wie: Helm ab zum Gebet.
Es ist die neunte Extraschicht, die neunte Nacht der Industriekultur. Die Schöne der Nacht. Hütten-Zauber, Extra-Licht. Licht zieht Leute an, die alte Regel vom Rummel gilt auch hier: 150 000 Menschen sollen dabeigewesen sein; wenn man es nicht zu genau nimmt, soviele wie im Vorjahr, und die Abgänge kann man getrost diesem furchtbaren Juniregen vom frühen Abend anlasten.
Die aber kamen, hatten das vor, was ein zögerlicher Mann im Deutschen Binnenschifffahrtsmuseum in Duisburg sagte. Kassiererin: „Wo wollen Sie denn genau hin?” Mann: „Wir wollen überall hin.”
Hier treffen sie jedenfalls auf die „Modern Kryner”, lustige Musikanten, die es schaffen, Titel wie „Funky town” oder „Something stupid” durch den konsequenten Einsatz von Posaune und Akkordeon so nach Alpen klingen zu lassen, als käme gerade eine slowenische Blaskapelle daher.
Menschlein an Hochöfen
Das hat dann zwar nichts mit Ruhrgebiet oder Industriekultur zu tun, ist aber unglaublich witzig und gehört zu den Einlagen, die die Extraschicht für sich vereinnahmt, obwohl sie eh stattfänden. Geschenkt!
40 Schauplätze zwischen Dinslaken und Unna, 120 Ereignisse, zwischen denen die Menschen in Bussen kreisen, wenn sie nicht gerade an den Haltestellen stehen und tropfen. Schwebende Skulpturen sehen sie am einen Ort, Menschlein am andern, die an Hochöfen herumkraxeln, Feuerwerk erhellt die Nacht und buntes Licht alte Mauern.
Manches war so ähnlich schon zu sehen, aber die Extraschicht erneuert sich ja ständig, indem die Schauplätze wechseln. Für den großen Bochumer Philosophen Frank Goosen ist sie die „Selbstvergewisserungsveranstaltung” des Ruhrgebiets; und die Region selbst hofft darauf, durch sie anders gesehen zu werden. Hofft auf Extra-Sicht.
Am 19. Juni 2010 wieder.
- Extraschicht lockt rund 150 000 Besucher ins Ruhrgebiet
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