Dortmund. Voll wilder Lust verabschieden Deichkind in der Westfalenhalle ihre langjährige Elektro-Rap-Arenashow – denn mit der ist bald Schluss.

Am Ende ist es ein sehr stimmiger Abschied für die große Deichkind-Inszenierung. Durch die Westfalenhalle pumpt am Samstagabend rückhaltlos die einzige und einzig denkbare Zugabe des Abends, „Remmidemmi“ – jene frech enthemmte Party-Artillerie, mit der 2006 Deichkinds Wandel von der HipHop-Crew zum Elektro-Rap-Gesamtkunstwerk unumkehrbar wurde. Die Hamburger mobilisieren jetzt nochmal alles: Im Schlauchboot fährt ein Crewmitglied über die springende Menschenmenge und bewirft die Jubelnden mit Federn. Währenddessen toben eineinhalb Dutzend grell Kostümierte mit Fahnen über die Bühne, altbekannte Requisiten wie Hüpfburg, Trampolin und übergroße Emojis komplettieren das knallbunte Wirrwarr. Es ist ein schönes Schlussbild für die vergangenen zwei Stunden, aber auch für die vergangenen grob 15 Jahre: All die Show-Elemente von heute und früher, mit denen Deichkind die Arenen des Landes zum Beben gebracht haben, sind noch einmal in Eintracht vereint.

Zuletzt hatten Deichkind angekündigt, die kommenden Arenakonzerte würden die letzten ihrer Art werden, danach werde die Band um Rapper und Sänger Philipp Grütering alias Kryptik Joe „mal richtig Tabula Rasa machen“ und sich etwas Neues ausdenken. Grund genug also, sich die äußerst tanzbare und exzellent durchchoreografierte Hedonismus-Sause mit dem politischen Unterbau nochmal anzugucken, solange es sie zu sehen gibt.

Konzert Deichkind in der Westfalenhalle Dortmund
Zur Deichkind-Show gehören auch mehr als zehn Background-Tänzer und -Performer. Zudem sorgen bewegliche digitale Stelen und Podeste dafür, dass sich das Bühnenbild von Song zu Song wandelt. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Tolle Show – aber kein ausverkauftes Haus

Dass die Westfalenhalle heute trotzdem nur zu zwei Dritteln voll ist, kann man nur über äußere Umstände halbwegs erklären: Schon im vergangenen Sommer standen Deichkind mit ihrem Programm im benachbarten Westfalenpark in Dortmund auf der Bühne, zudem haben sie erst am Vortag im nicht allzu weit entfernten Köln gespielt. Und manchmal kann es wohl auch ein Fluch sein, dass man bei Deichkind seit langem beständig weiß, was man bekommt – zahlreiche Nummern der über die Jahre fortentwickelten Show kennt man auf die eine oder andere Weise.

Großartige Unterhaltung ist das trotzdem, und die fängt bei Deichkind schon mit dem Vorprogramm an: Auf einem weißen Vorhang bekommt das Publikum eine exzellent kuratierte Video-Playlist zwischen HipHop, Techno und Rock zu sehen, dazwischen platziert die Band ein Grußwort ans Dortmunder Publikum im Instagram-Stil und Rapper Sebastian „Porky“ Dürre mahnt, man werde keinerlei Form von Diskriminierung während des Konzerts dulden. Während andere Künstler ihren Auftritten zähe Vorband-Schleifen vorschalten, singt sich das Publikum – die Millennials sind leicht in der Überzahl, aber auch die Gen Z haben Deichkind mit ihren Meme- und Slogan-Texten zuverlässig erreicht – schon vor dem Start mit Queens „I Want To Break Free“ oder Rage Against The Machines „Killing In The Name“ auf Betriebstemperatur.

Konzert Deichkind in der Westfalenhalle Dortmund
Ein Highlight der aktuellen Show: „Auch im Bentley wird geweint“ mit einem mechanischen Bullen in Form einer Luxus-Handtasche. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Deichkind und eine Vorahnung auf einen Abschied

Kurz bevor es losgeht, gibt es noch eine kleine Vorausdeutung darauf, dass das heute eine Art Abschied wird: wackelige Zeitlupen-Videos legendärer Live-Momente lassen einen wehmütig zurückdenken, womit sich Deichkind über die Jahre ihren Ruf als grandiose Liveband erarbeitet haben.

Als eben jene entpuppt sich das von einem guten Dutzend Helfern unterstützte Rapper-Trio auch heute sofort wieder: Als der Vorhang fällt, wickeln Deichkind das Publikum sofort um den Finger, „99 Bierkanister“ dirigieren die Drei auch noch liegend zur befreienden Tanz- und Mitsingorgie. Beim folgenden „So‘ne Musik“ blinken dann endlich auch die markanten Tetraeder-Hüte der Band auf den Köpfen einiger Statisten. Im Hintergrund fahren derweil Deichkinds mittlerweile patentierte Video-Stelen und -Podeste herum, die dynamisch immer wieder die Szenerie verändern. Sowieso muss man nochmal festhalten, dass das alles hier schon lange keine typischen Konzerte mehr sind; vielmehr handelt es sich um eine Nummernrevue, oder Szenenbilder wie im Theater, die individuell für den jeweiligen Song konzipiert, ausgestattet und choreografiert wurden.

Konzert Deichkind in der Westfalenhalle Dortmund
Früher auch bei Deichkind selbst ein Standard auf der Bühne, noch heute bei den Fans beliebt: Neonfarben, zum Beispiel in Form von Knicklichtern. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Zwischen Hochkultur und Gaga-Humor

So erinnern Outfits und Hintergrund schon mal plötzlich an ein Gemälde von Jackson Pollock. Ein schönes Beispiel ist „Auch im Bentley wird geweint“, jener um die Ecke selbstentblößende Appell der Luxusverwöhnten an die Menschlichkeit, zu dem ein Bandmitglied auf einem zur Edel-Handtasche ausgekleideten mechanischen Bullen einreitet, während der Rest das Kapitalismus-Statussymbol wie einen Götzen im Halbkreis anbetet. Und ohne das fantastische Bürostuhl-Ballett zum frenetisch mitgesungenen Hit „Bück dich hoch“ ist auch keine Deichkind-Show mehr komplett.

Diese konstante Mischung aus Hochkultur-Ambition und Gaga bis Dada, aus genusssüchtigen Partyhymnen und politischem Zeitgeist-Kommentar ist es, die einen die Deichkind-Show Song für Song verschlingen lässt. Was umso leichter fällt, weil sich die Erfahrung der Bandmitglieder als Produzenten und DJs auszahlt: Bruchlos gehen die Songs ineinander über, bis zur Zugabe reißt der Faden der Show keine Sekunde lang ab. Das muss einem auch unter Fitness-Aspekten Respekt abnötigen, wenn sich die Truppe etwa zu „Oma gib Handtasche“ minutenlang auf Sport-Trampolinen auspowert.

Konzert Deichkind in der Westfalenhalle Dortmund
Beim ersten Song „99 Bierkanister“ machen es sich Porky und seine Kollegen erstmal liegend auf der Bühne gemütlich – und das Publikum flippt nur umso mehr aus. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Ein Best-of-Set voller aberwitziger Momente

So lässt man sich mitreißen von diesem musikalischen Kindergeburtstag für Erwachsene, von einem Best-of-Set voller Hits, das kaum Wünsche offen lässt. Freut sich über Fluglotsen- und Regenschirm-Tanzperformances, über clever miteinander in der Setlist gruppierte Themenblöcke wie die (Anti-)Querdenker Songs „Wer sagt denn das“ und „Wutboy“, ein Wiedersehen mit dem Riesenrucksack aus dem „Richtig gutes Zeug“-Musikvideo und dem durch die Menge fahrenden Riesenfass zu „Roll das Fass rein“. Und natürlich über „Hört ihr die Signale“, diese ultraprimitive Saufnummer, die angelehnt an die Internationale eine universelle Menschlichkeit proklamiert und mit ihrem schmachtenden „The Power Of Love“-Einschub immer noch zum Aberwitzigsten gehört, was Deichkind im reichhaltigen Programm haben.

„Wollt ihr mit uns ans Limit gehen?“, fragt Porky gegen Ende, die Antwort fällt ohrenbetäubend aus. Mit dieser unangepassten, kreativen Band eben immer gern – egal in welcher Form in Zukunft.

Deichkind kann man im Sommer 2025 noch im Sauerland live erleben:
21.06.2025 Olpe, Biggesee Open Air