Essen. Die Reporterin Margot Overath stellt Fakten und Fragen zu Jalloh zusammen, ihr Kollege Mohamed Amjahid sieht darin einen Fall von vielen.

„Das, was hier geboten wurde, war kein Rechtsstaat. Und Polizeibeamte, die in einem besonderen Maße dem Rechtsstaat verpflichtet waren, haben eine Aufklärung verunmöglicht. All diese Beamten, die uns hier belogen haben, sind einzelne Beamte, die als Polizisten in diesem Land nichts zu suchen haben.“ Die Wutrede des Vorsitzenden Richters Manfred Steinhoff nach dem ersten Prozess gegen Beamte, in deren Obhut Oury Jalloh am 7. Januar 2005 verbrannt war, sprach Bände: Man sei der Wahrheit „nicht ein Zipfelchen näher“ gekommen, viele Polizisten hätten „bedenkenlos und grottendämlich“ falsch und unvollständig ausgesagt.“

Es ist wohl auch der nahende 20. Todestag, der viel Aufmerksamkeit auf den nach wie vor unaufgeklärten Tod des 22-jährigen Asylbewerbers im Dessauer Polizeirevier Wolfgangstraße lenkt. Eine sechsteilige ARD-Serie fragt „Warum verbrannte Oury Jalloh?“ Der Fall mag besonders krass sein, ein vereinzelter ist er nicht. Allein im August 2023 starben binnen einer Woche vier Menschen in Deutschland bei Polizei-Einsätzen, darunter der jugendliche Mouhamed Dramé in Dortmund. Und vor nicht einmal zwei Wochen starb ein 34-Jähriger im niederrheinischen Kamp-Lintfort, nachdem die Polizei am Abend des 23. Novembers einen Hinweis auf Ruhestörung in einer Wohnung erhalten hatte.

Investigativ-Journalist Mohamed Amjahid beleuchtet mehr als 150 Fälle von Polizei-Gewalt

ARD Crime-Time: Warum verbrannte Oury Jalloh?
„Warum verbrannte Oury Jalloh?“ Eine sechsteilige True-Crime-Serie der ARD von Anna Herbst und Bence Mate geht derzeit dieser Frage nach. © obs | WDR Westdeutscher Rundfunk

Jeder Fall ist besonders, jeder Fall hat seine eigenen Umstände. In seinem neuen Buch dokumentiert der Investigativ-Journalist Mohamed Amjahid mehr als 150 Fälle von Gewalt und Machtmissbrauch von beamteter Seite. Aber die titelgebende Frage „Alles nur Einzelfälle?“ ist rhetorisch, Amjahid geht es in seinem Buch um „das System hinter der Polizeigewalt“. Seine These: Die Strukturen der Polizei, ihre Geschichte und Besonderheiten fördern solche Fälle derart, dass sie sich nicht verhindern, sondern bestenfalls nur eindämmen lassen.

Den Fall Oury Jalloh hat wohl niemand so gut recherchiert wie die mehrfach ausgezeichnete Rundfunk-Journalistin Margot Overrath, die sich seit 17 Jahren mit dem Fall befasst. Aber auch ihr gelang es nicht, eindeutig zu rekonstruieren, was in den letzten Stunden des Lebens von Oury Jalloh geschah. Die von der Polizei und Gerichten favorisierte Theorie, der Mann aus Sierra Leone hätte, an allen vieren angekettet, die unter ihm liegende Matratze angezündet, wird von ihr jedenfalls gründlich widerlegt – und mehr als ein Brandsachverständiger kam aufgrund der Tatort-Fotos und nach etlichen Versuchen zu dem Schluss, dass die resultierende Verrauchung zum einen auf den Einsatz von Brandbeschleunigern hindeutet und zum anderen nur bei geöffneter Zellentür möglich erscheint. Erst 2019 entdeckte zudem ein radiologisches Gutachten der Universitätsklinik Frankfurt/M. Brüche in der Nasengegend und an Rippen des verbrannten Leichnams. Finanziert wurde es von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh.

Demonstration zum 19. Todestag von Oury Jalloh
Am Todestag Oury Jallohs legten in diesem Jahr Demonstranten symbolträchtig Feuerzeuge vor dem Eingang der Staatsanwaltschaft Dessau ab. Das Feuerzeug, mit dem sich der Mann aus Sierra Leone selbst angezündet haben soll, tauchte erst drei Tage nach dem Band in der Polizeiwache auf. © DPA Images | Sebastian Willnow

Dass die Aufklärung des Geschehens so schwer fällt, hat vor allem mit dem Verhalten der Polizei in diesem Fall zu tun: Die etwa eine Stunde nach dem Brand durch den Kriminal-Dauerdienst aufgenommenen Fotos vom Tatort sind spurlos verschwunden, obwohl ihre Anfertigung dokumentiert ist. Die Kriminaltechniker vom LKA Sachsen-Anhalt, die anschließend die Fakten sichern sollten, arbeiten extrem schlampig; die Videodokumentation zeigt lediglich die vorgefundene Situation, nicht aber die Spurenarbeit der LKA-Leute. Der Fund eines verschmorten Feuerzeugs wurde nachträglich in den Bericht eingefügt, das Feuerzeug tauchte erst drei Tage nach dem Brand auf, das Spurenmaterial (darunter Tierhaare) lässt vermuten, dass es sich nie in der brennenden Zelle befunden hat. Ein Brandexperte des LKA nahm die Zelle erst in Augenschein, nachdem der Brandschutt zusammengefegt und in vier Plastikbeutel gefüllt worden war. Ein Messprotokoll über den angeblichen Einsatz eines Geräts, das Brandbeschleuniger aufspüren kann, existiert nicht.

Bei der Verhandlung vor dem Landgericht Dessau kam zudem heraus, dass das Polizeipräsidium vor dem Prozess drei „Zeugeninformationsgespräche“ mit dem hauseigenen Justiziar organisiert hatte, an denen mehr als zwei Dutzend Beamtinnen und Beamte der Wache teilgenommen hatten. Und: Der Fall Oury Jalloh war nicht der erste ungeklärte Todesfall rund um die Dessauer Wache: Am 7. Dezember 1997 war der Maschinenbauingenieur Hans-Jürgen Rose mit tödlichen Verletzungen 200 Meter vom Polizeirevier entfernt aufgefunden worden – Rose hatte in der Nacht volltrunken einen Autounfall verursacht, war auf der Wache vernommen worden. Das Geschehen danach bleibt unklar; am 30. Oktober 2002 starb auf derselben Wache, in deren Ausnüchterungszelle Oury Jalloh verbrannte, der schwer alkoholisierte Mario Bichtemann an einem Schädelbruch, von dem nicht abschließend geklärt ist, wann und wo er den erlitten hat.

Mohamed Amjahid stellt in seinem Buch „Alles nur Einzelfälle?“ dar, wie das System Polizei Gewalt begünstigt

Mohamed Amjahid („Der weiße Fleck“) sieht die Wurzeln der Gewalttätigkeit in der Polizei-Arbeit unter anderem in der Geschichte dieser Institution als Instrument staatlicher Unterdrückung begründet. Zu den strukturellen Problemen der Polizei gehöre aber auch, dass rechte und rassistische Weltbilder unter ihren Angehörigen stärker verbreitet sind als im Durchschnitt der Bevölkerung. Amjahid beschreibt (in einem subjektiv gehaltenen, ironischen und manchmal unnötig flapsigen Schreibstil) zudem den „kurzen Arm“ der Justiz, der die Polizei im Zweifelsfall schütze, zumal Staatsanwälte und Ordnungshüter permanent zusammenarbeiteten.

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Am Ende seines fall- und faktenreichen Buchs überprüft der Journalist diverse Strategien zur Verhinderung von unangemessener Polizeigewalt. Der Versuch, die Polizei mit vermehrter Einstellung von Frauen und Menschen mit Migrationsbiografie diverser zu machen, habe bislang keine nachweisbaren Effekte gehabt, ebenso wenig wie interne Kontrollmechanismen oder eine parlamentarische Kontrolle. Signifikant ist allerdings die Wirkung von standardmäßig ausgestellten Quittungen für jede vorgenommene Polizeikontrolle: Diese Form der Kontrolle hat nach ihrer Einführung im kanadischen Ottawa sowie im australischen Bundesstaat Victoria das „Racial Profiling“, also die unbegründete und unproportional häufige Kontrolle von nicht-weißen Menschen durch die Polizei, sichtlich eingedämmt.

Margot Overath: Verbrannt in der Polizeizelle. Die verhinderte Aufklärung von Oury Jallohs Tod im Dessauer Polizeirevier. Metropol Verlag, 281 S., 22 €. Mohamed Amjahid: Alles nur Einzelfälle? Das System hinter der Polizeigewalt. Piper, 351 S., 18 €. Beide diskutieren beim „Lesart“-Abend des Deutschlandfunkkultur im Essener Grillo-Theater am Dienstag, 3. Dezember, ab 20 Uhr mit Moderator Christian Rabhansl und dem Chefreporter Kultur Jens Dirksen.