Dortmund/Oberhausen. Kein Platz, kaum Gage. Wie zum Kult wurde, was im Chaos begann. Die Rocky Horror Show feiert ihr 50-jähriges Jubiläum. Auch in NRW.
London, früher Morgen. Die Lippen glänzen. Schnell noch etwas Rot nachgelegt, dann kann es losgehen. Patricia Quinn – genannt Pat - trägt Pythonjacke zu hautenger Hose und Sneakern, die so schwarz sind wie der Humor der 80-Jährigen. Lila ist das Haar, spitz die Zunge. Quinn hat auf einem schlichten Holzstuhl Platz genommen, den jemand auf die Bühne gestellt hat. Eine Bühne, die es so vor mehr als 50 Jahren noch nicht gab. Quinn ist damals dabei, als im Royal Court Theatre am Sloane Square im Londoner Stadtteil Chelsea ein Musical Premiere feiert, von dem zu diesem Zeitpunkt niemand ahnt, dass es einmal Showgeschichte schreiben wird. Es ist die Geburtsstunde der „Rocky Horror Show“.
Premiere in den 1970ern war nach 50 Minuten vorbei
Natürlich kommt niemand verkleidet zur Premiere, keiner wirft mit Reis oder Klopapierrollen um sich. Brav bleibt das Publikum sitzen, guckt zu, applaudiert. Nach nur 50 Minuten ist alles vorbei und kaum etwas ist wie im Film, der Jahre später die Kinowelt erobert. „Und der Time Warp, später einer der großen Hits aus dem Stück, hat gar keine Rolle gespielt“, erinnert sich Quinn.
Auch klingt „Royal Court Theatre“ ein wenig pompöser, als es tatsächlich ist. Denn die Show, die es zu sehen gibt läuft in dem Theater nicht etwa im großen Saal, sondern „upstairs“ – oben im vierten Stock unter dem Dach. Ein Raum mit Platz für 60 Gäste, ohne Bühne, ohne Kulissen, ja selbst ohne Umkleiden. „Ich musste mich auf dem Damenklo umziehen“, erinnert sich Pat Quinn. Zudem läuft das neue Stück erst spät am Abend. Weil zu einem Musical ja nun einmal Musik gehört. Laute Rock ‘n’ Roll-Musik, die jene Besucher stören könnte, die unten im Saal in das gediegene Theaterstück „The Sea“ eintauchen wollen.
Die Rocky Horror Show wartet zudem mit einer (eher wirren) Handlung auf, mit der sich auch im Ensemble manche Frau schwertut. Klar, Pat Quinn steht in den Siebzigern auf den gerade erwachenden Punk, nimmt kein Blatt vor den Mund. Aber dass da eine Frau namens Janet auf der Bühne steht und lasziv singend darum bittet, berührt zu werden, weil sie sich gerne „dreckig fühlen“ möchte – „ich hätte das nicht gesungen“, erzählt Quinn.
„Niemand hat geglaubt, dass das ein Erfolg wird“
Aber das muss sie auch nicht, denn sie spielt nicht Janet, sondern Magenta, im Programm damals „Castle Maid“ – Burgfäulein – genannt. Was eine sehr dezente Beschreibung für die Rolle eines abgedrehten Hausmädchens ist. Am Ende aber ist es Pat egal. Sie ist jung, sie braucht das Geld, sie hat eine kleine Tochter zu Hause. Also nimmt sie die Rolle an. Für 18 Pfund die Woche. „Ist ja nur kurz“, glaubt sie. Bei der Handlung. Ein junges Paar, das sich in ein abgelegenes Haus verirrt, in dem ein außerirdischer Transvestit, mit einer Schar skurriler Gestalten und dem buckeligen Hausdiener Riff Raff haust. Und künstlich zum Leben erweckte Liebhaber – wer will denn so etwas sehen? Quinn: „Niemand hat geglaubt, dass das ein Erfolg wird.“
Ein Irrtum. Aus drei geplanten Wochen werden fünf. Aus Wochen werden Monate und aus Monaten Jahre. Am Ende sind es 2960 Aufführungen der Rocky Horror Show. Denn Kritiker und Besucher sind so begeistert, dass die Produktion in immer größere Säle wechselt und schließlich sieben Jahre in Londons legendärem Theaterbezirk Westend läuft. Selbst als dort der letzte Vorhang fällt, geht die Horrorshow weiter – in immer neu aufgelegten Tour-Versionen.
Rote Lippen für die Ewigkeit
Schon ein Jahr nach der Theater-Premiere wird die skurrile Geschichte verfilmt. Pat schlüpft dafür nicht nur wieder in die Rolle der Magenta, ihre Lippen sind es auch, die die Zuschauer im Vorspann begrüßen. Ihr Mund taucht aus der Dunkelheit auf. Nur die roten Lippen und strahlend weiße Zähne in einer ansonsten völlig schwarzen Umgebung sind zu sehen. „Michael Rennie was ill / the day the earth stood still“, singen die Lippen. 55 Sekunden dauert der Song, eine knappe Minute, die Pat in Film– und Fan-Kreisen unsterblich macht – obwohl nicht ihre Stimme zu hören ist, sondern die von Richard O‘ Brien, der die Geschichte geschrieben hat.
Der Film tut sich anfangs viel schwerer als die Bühnenversion. „Zwei Jahre lang ist nichts passiert“, erinnert sich die Britin. Vor allem im prüden Amerika weiß der Verleih nicht, wie er die queere Story bewerben soll. Bis er sich entschließt, den Film ausschließlich in den Mitternachtsvorstellungen zu zeigen.
Wenig später fliegt im Zuschauerraum der erste Reis, kommen die ersten Besucher schrill verkleidet, sprechen ganze Textpassagen mit und streiten während der laufenden Show mit Darstellern und Erzähler. Ein Kult ist geboren. Im Kinosaal, aber auch auf den Theaterrängen. Pat Quinn bekommt davon lange nichts mit. Bis sie nach vielen Jahren mal wieder als Gaststar in die Horror-Show zurückkehrt: „Ich dachte, die Leute sind alle verrückt geworden.“
Jede Show ist eine „tolle Herausforderung“
Das sind sie natürlich nicht. Aber Sky Du Mont, der bei den anstehenden NRW-Gastspielen wieder einmal den Erzähler des Stücks geben wird, kann Pat gut verstehen. Er erinnert sich noch gut, wie er selbst erstmals oben auf der Musical-Bühne stand hat – natürlich im Smoking. Mit einem Buch in der Hand, aus dem er ruhig die Geschichte erzählen wollte.
Doch das Publikum machte seine eigene Show. Ausgelacht und wüst beschimpft haben die Besucher den verdutzten Erzähler. Und unten im Publikum haben sie gelacht über den „langweiligen“ Erzähler: „Geh nach Hause!“, schallte es ihm entgegen. Zuerst hat Sky du Mont das persönlich genommen: „Ich war schockiert.“ Inzwischen aber weiß er längst: „Das gehört einfach zu der Show, ist ein Ritual.“ Heute lässt er sich gern auf das Spiel ein und kontert rüde Zurufe aus dem Publikum. „Eine tolle Herausforderung“ nennt er die Aufführungen.
Träume nicht davon, sei es
Deshalb hat er auch nicht lange überlegt und zugesagt, als die Veranstalter gefragt haben, ob er wieder mit dabei sein will. Er mag die Bühnenfassung mehr als die Filmversion, sagt er. Schon wegen der Musik, die dezent neu arrangiert erklingt. Aber auch, weil bei anderen Singspielen die Besucher eher selten auf den Stühlen stehen und mittanzen. Oder mit Reis und Klopapierrollen werfen. Bei Rocky Horror ist das eher Regel als Ausnahme und schafft eine Stimmung, die du Mont „so noch nicht erlebt“ hat. „Die Leute wollen halt Spaß“, hat er festgestellt. Aber das allein ist es nicht.
Der Brite Oliver Savile, der wieder einmal die roten Pumps schnürt, um in die Rolle des verrückten Dr. Frank N. Furter zu schlüpfen, die einst Tim Curry weltberühmt machte, braucht nur einen Song aus dem Musical, um den Erfolg der Rocky Horror Show zu erklären. „Don’t Dream It, be it – Träume nicht davon, sei es.“ „Es geht darum, man selbst zu sein, keine Kompromisse einzugehen“, sagt Savile. „Das ist etwas, was gerade heute viele Menschen nachvollziehen können.“
Komponist Richard Hartley, einer der „Väter“ des Musicals, hat indes schon vor Jahren jeden Erklärungsversuch aufgegeben. Er glaubt: „Am Ende weiß niemand wirklich, warum die Rocky Horror Show funktioniert.“ Und beschreiben könne man die Faszination ohnehin nicht. „Das muss man selbst einmal live erleben.“
Termine: Dortmund, Konzerthaus: 26. bis 31. Dezember, Köln, Lanxess Arena: 16. bis 18. Januar. Oberhausen, Rudolf Weber Arena: 24. u. 25. Januar, Karten ab ca. 55 Euro.