Köln/Dinslaken. „Deine Disco“: Der Kölner Kabarettist erklärt, warum die E-Gitarre die Welt verändert hat und auch politische Bewegungen Musik brauchen.
Am Tag vor Halloween in Sonsbeck, Allerseelen in Dinslaken: Der Kölner Kabarettist Jürgen Becker („Mitternachtsspitzen“) ist überzeugt, dass Musik bewegt. Auch politisch. Wie das funktioniert, erklärt er in seinem neuen Programm „Deine Disco“. Zum Gespräch in einem Kölner Altstadtcafé kommt er leise und politisch korrekt auf einem E-Motorrad, das er am Niederrhein hat anfertigen lassen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Herr Becker, die Welt ist eine Scheibe, oder?
Aus musikalischer Sicht auf jeden Fall. Die Welt hat auch eine Playlist. Wir sind im christlichen Abendland zwar aufgewachsen mit dem weihevollen Satz „Im Anfang war das Wort.“ Aber das ist falsch. Im Anfang war die Musik! Sie ist die universelle Ursprache des Menschen, gibt unserem Fühlen und Denken Struktur. Die Worte kamen erst später.
Das sagt ausgerechnet jemand, der vom Wort lebt.
Ja – und der kein Instrument beherrscht.
Ihnen geht es in Ihrem Programm vor allem darum zu zeigen, dass Musik auch politisch ist. Heißt aber „Deine Disco“. Ist Disco nicht von allen Pop-Genres das Unpolitischste?
Das würde ich so nicht sagen. Wenn früher in der Disco die Stones liefen, dann hatte das durchaus eine politische Botschaft.

Ist Musik auch im Streaming-Zeitalter noch politisch?
Was sich geändert hat, ist: Dass man nicht mehr eine ganze LP hören muss. Die meisten Platten, nicht alle, hatten zwei, drei Hits, man hörte aber auch den Rest. Das war eine andere Hörkultur als heute im Streaming, wo man sich von jeder Musikerin, jedem Musiker für seine Playlist die Rosinen rauspicken kann.
Woher kam die Idee, aus der eigenen musikalischen Vita ein Kabarettprogramm zu machen?
Ich habe das Gefühl, die Menschen brauchen im Moment etwas anderes als den Welterklärer, der da steht und die Finger in die Wunden der Zeit legt. Ich spüre, dass die Leute aufgebaut werden wollen, so etwa nach dem Motto „Wir müssen jetzt mal hoffnungsfroh nach vorn gucken und uns fragen: Wie kriegen wir das Ding gewuppt?“ Da ist Musik ein gutes Mittel, an unsere musische Lebenserfahrung anzuknüpfen: Wir konnten doch mal etwas bewegen, die Welt verändern und uns engagieren. Da war aber immer Musik dabei, unser Engagement hatte immer einen Soundtrack.

Und die Klimabewegung hat den falschen Soundtrack?
Die hat gar keinen! Das ist nicht nur ihre Schuld, aber aus meiner Sicht der Fehler. Ich war sehr erfreut, als ich auf einer Demo hier auf dem Heumarkt sprechen durfte. Da habe ich gefragt: Spielt hier keine Band? „Nein“ meinte der Veranstalter, aber darum gehe es ja auch nicht. Da habe ich gesagt: Leute, ihr könnt doch das Klima nicht retten ohne Musik. Wie soll das gehen? Wer ein Thema nach vorn bringen will, muss die Emotionen bedienen. Und das kann Musik. Ohne Groove kein Move.
Aber die Klimabewegung hat noch nicht auf Sie gehört?
Das ist ja auch nicht so leicht, den richtigen Ton zu treffen. Wir hatten damals einen neuen Sound durch die E-Gitarre. Das war ein enorm wichtiges, neues Instrument, ein geradezu revolutionärer Klang. Ich bin dem mal nachgegangen, wie der zustande kam, das hat fast ein halbes Jahrhundert gedauert.
Da war ein gewisser Herr Fender im Spiel…
Leo Fender war für die Musik das, was Henry Ford für die Massenmotorisierung war. Fender konnte gar nicht Gitarre spielen, er hat auch nichts Neues erfunden, aber die Erfindungen anderer zusammengefügt und aus der Handwerkskunst des Instrumentenbaus eine Fabrikfertigung gemacht. Mit einfach zu verschraubenden Teilen wurde die E-Gitarre erschwinglich. Und statt des Schallkörpers gab es nur noch ein Brett mit Tonabnehmern. Der Sound war revolutionär, eine akustische Abrissbirne.

Sie spielen jetzt vor allem auf den Soundtrack der 68er an, auf Woodstock. Aber auch in den 80ern gab es mit Bob Geldofs Band Aid, mit dem Free-Mandela-Konzert oder auch in Köln mit „Arsch huh!“ noch mal eine Phase, in der man glauben konnte: Musik verändert die Welt zum Besseren. Wo ist das geblieben?
In einer kreativen Pause. Meine Überzeugung: Das kann wieder gelingen. Ich bin kein Komponist, kann aber auf der Bühne in „Deine Disco“ die Wucht der Emotionen hörbar machen. Wir können zum Beispiel Ideen entwickeln, wie wir mit viel weniger Ressourcenverbrauch ein viel besseres Leben führen können. Reduktion ist die neue Utopie. Musikalisch deutet das Vicky Leandros: Sie verlässt ihren Mann und dessen Geld und Besitz und singt „Nein, sorg dich nicht um mich, denn ich liebe das Leben“. In meinem Programm singen das alle mit Inbrunst mit – zu Recht. Denn man kann tatsächlich gut leben, auch wenn etwas weg ist, an das man sich gewöhnt hat oder das man vielleicht mal geliebt hat. Diese innere Gewissheit brauchen wir nun nach sieben Jahrzehnten ständig steigendem Wohlstand. Schließlich kann es auf einem endlichen Planeten kein unendliches Wachstum geben.
Apropos mitsingen. Es heißt ja so schön: Wo man singt, da lass dich nieder, böse Menschen haben keine Lieder.
Heißt es. Ist falsch. Faschisten haben auch Lieder. Aber: Wir haben eindeutig die Besseren! Und das macht doch Hoffnung, oder?
Jürgen Becker als Radio-DJ in „Deine Disco“ kommt zu mehreren Auftritten in unserer Region, Start immer um 20 Uhr, Kartenpreise meist um die 30 Euro. Alle Termine hier
30. Oktober: Kastell Sonsbeck, 2. November Kathrin-Türks-Halle Dinslaken,
14. November Kaue Gelsenkirchen, 15. November Immanuelskirche Wuppertal,
28. November Savoy-Theater Düsseldorf, 17. Januar 2025 Stratmanns Essen
5. Februar Alte Molkerei Bocholt.