Essen. Manche werden mit goldenem Löffel im Mund geboren, andere müssen sich hochkämpfen. Wir haben zwei Menschen mit konträren Start-Chancen getroffen.

Iveen Sulaiman, 20, musste als Zehnjährige mit ihrer Familie aus dem Irak flüchten. Im nächsten Jahr macht sie ihr Abitur und will unbedingt Jura studieren. Timon Marx, 25, wuchs in einer Apothekerfamilie auf, studierte Pharmazie und ist seit kurzem Geschäftsführer seiner eigenen Apotheke. Zwei völlig unterschiedliche Kindheiten, zwei zielstrebige junge Erwachsene. Wie sehen sie sich gegenseitig, was denken sie über das Aufwachsen unter schwierigen und eher leichten Bedingungen?

„Ich habe es hier geschafft, bin voll integriert und stolz auf mich“, sagt Iveen Sulaiman selbstbewusst. „Ich will immer mein Bestes geben.“ Im Irak konnte sie nur zwei Jahre lang die Schule besuchen, dann brach der Krieg aus. „Meine Mutter ist nie zur Schule gegangen und mein Vater nur bis zur sechsten Klasse.“ Das Schulsystem im Irak sei ziemlich schlecht. Bildung begann für die Mülheimerin im Grunde genommen erst in Deutschland. „Natürlich war es eine große Herausforderung, die deutsche Sprache zu lernen und in dem mir fremden Land zurechtzukommen“, erzählt die Gesamtschülerin. „Ich musste immer doppelt lernen.“ Ihr gefiel es nicht, dass sie in der Schule in allen Fächern in Grundkursen steckte.

Mit Unterstützung ihrer Lehrkräfte schaffte es Iveen Sulaiman, in immer mehr Erweiterungskurse zu gelangen. Denn das Abi ist für die ehrgeizige junge Frau ein Muss. „Ich will Jura studieren und mich beruflich mit Menschenrechten beschäftigen.“ Ihrer Überzeugung nach sollte jeder Mensch seine Chancen nutzen, auch wenn er oder sie dafür kämpfen muss. „Meine Kindheit hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin.“

„Menschen wie Iveen beeindrucken mich sehr“

Timon Marx kennt solche Herausforderungen nicht, und ebenso wenig Krieg, Hunger oder die Angst, ob man in der nächsten Nacht irgendwo in Sicherheit schlafen kann. Oder lange keinen festen Wohnsitz zu haben, wie es Iveen Sulaiman erleben musste. „Menschen wie Iveen beeindrucken mich sehr“, sagt der Mittzwanziger. „Ich kann mir das Leben nicht vorstellen, wenn man schon so viel Leid erlebt hat und sich trotzdem nicht aufgibt, sondern seine Ziele weiterverfolgt. Das schaffen noch nicht einmal alle, die in privilegierteren Verhältnissen aufgewachsen sind.“ Der junge Mülheimer bewundert, wie unbeirrt Iveen sich durchgekämpft hat, Schritt für Schritt.

Er selbst fühlt sich privilegiert: „In dem Sinne, dass ich nie solche Sorgen hatte.“ Und er sieht ganz klar, wie ungerecht es ist, dass in Deutschland viele arme Menschen umtreibt, wie sie am Ende des Monats noch ein Essen auf den Tisch bringen – und weniger, wie sie ihren Kindern eine gute Bildung ermöglichen können, die für ihn stets selbstverständlich war.

Die 20-jährige Iveen Sulaiman steht kurz vor dem Abitur.
Die 20-jährige Iveen Sulaiman steht kurz vor dem Abitur. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Timon Marxs Großvater war Apotheker, sein Vater führt vier Apotheken, und seine Mutter ist als Diplom-Pädagogin beruflich in der Familienberatung selbstständig. „Die große Verantwortung und den Druck, den meine Eltern hatten und haben, habe ich schon als Kind miterlebt. Auch für Apotheken gibt es schwierige Zeiten. Das muss nicht immer finanziell sein, aber man ist verantwortlich für die Mitarbeiter. Das hört dann eben nicht nach dem Feierabend auf.“ Die zunehmende Konkurrenz durch Online-Apotheken und Fachkräftemangel sind weitere Schwierigkeiten. Der Kundschaft müsse man aber immer zeigen, dass es weitergeht – das kann anstrengend sein.

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Nun führt er selbst eine Apotheke mit fünf Mitarbeitenden. „Geschäftsführer zu sein, ist für mich sehr schön, aufregend und auch manchmal beängstigend“, fasst Timon Marx zusammen. „Und ich spüre den Druck, alles richtig machen zu wollen. Ich arbeite mindestens 50 Stunden in der Woche.“ Andere Menschen in seinem Alter lassen es wohl lässiger angehen. „Das war nie mein Ziel. Seit ich 14 oder 15 bin, war mir klar, dass ich selbstständig arbeiten und Pharmazie studieren möchte.“

„Ein zweites Studium oder so was wäre nichts für mich gewesen“

Die Annahme, dass ihm alles in den Schoß fällt, kennt er gut. „Das stimmt aber nicht. Meine Apotheke wurde mir nicht vererbt oder geschenkt, sondern zum marktüblichen Preis bezahlt.“ Timon Marx verdeutlicht, dass er Druck, Tempo und Zielstrebigkeit mag. „Mein Leben macht mir Spaß, ein zweites Studium oder so was wäre nichts für mich gewesen.“

 Timon Marx hat seine eigene Apotheke.
Timon Marx hat seine eigene Apotheke. © HO | Privat

Auch Iveen Sulaiman strebt einen anspruchsvollen Beruf an. Ein Jurastudium. „Ich kann alles erreichen, was ich will“, ist sie überzeugt. Die Zwanzigjährige ist Stipendiatin der Ruhrtalente, ein Schülerstipendienprogramm des NRW-Zentrums für die Talentförderung leistungsstarker Schülerinnen und Schüler der Westfälischen Hochschule. Sie erhielt sogar eine Auszeichnung von Bundesjustizminister Marco Buschmann für ein Video zum Thema Grundgesetz, an dem sie mitgewirkt hat.

„Deutschland hat mir viel gegeben, und ich möchte etwas zurückgeben“

Iveen betreut zudem in ihrer Freizeit Kinder, die wie sie aus ihrer Heimat flüchten mussten. „Diese Kinder brauchen hier mehr Unterstützung“, fordert sie. Neidisch sei sie noch nie auf Menschen gewesen, die in komfortableren Verhältnissen aufwachsen als sie – so wie Timon Marx. „So jemand hat sicherlich weniger Sorgen und hat es leichter in der Schule als ich, aber Timon wollte sich ja auch weiterentwickeln und hat sich dafür angestrengt. Er hätte nicht Pharmazie studieren müssen.“

Gesellschaftliches Engagement liegt beiden jungen Menschen sehr am Herzen. „Deutschland hat mir viel gegeben, und ich möchte etwas zurückgeben“, betont Iveen Sulaiman. „Was in der Gesellschaft passiert, macht mich traurig. Manche politischen Parteien wollen Menschen wie mich, die hierhin geflüchtet sind, und die anderen trennen.“ Als Juristin wolle sie später ihre Meinung und ihr Wissen weitergeben und mit für eine bessere gesellschaftliche Lage in Deutschland sorgen. Denn neben wachsender Rechtsradikalität in Deutschland missfällt ihr auch die Bildungsungerechtigkeit in unserem Land sehr.

„Die soziale Ungleichheit wird immer höher. Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer. Man müsste das Geld gerechter verteilen. Frühkindliche Bildung von Anfang an halte ich für sehr wichtig, damit alle Chancen haben voranzukommen. Und jeder Mensch soll sich wertvoll fühlen – egal, ob er arm oder reich geboren wurde.“ Dass jemand, der mit dem „goldenen Löffel im Mund“ geboren sei, sein Erbe komplett abgeben sollte, hält Iveen Sulaiman jedoch für falsch. „Schließlich kommt das Vermögen aus der eigenen Familie.“

„Reiche haben bessere Möglichkeiten“

Timon Marx ist in gesellschaftliche Verantwortung hineingewachsen. Ehrenamtliche Tätigkeiten gehörten für seine Familie immer dazu. Daher lag es für ihn auf der Hand, Verantwortung für andere zu übernehmen: Timon war Schülersprecher und Studierendenvertreter. „Jeder Mensch ist verpflichtet, sich sozial zu engagieren“, meint der junge Apotheker. „Reiche umso mehr. Denn Reichtum bedeutet Macht, und das bringt eine Verpflichtung mit sich.“

Auch er empfindet es so, dass die Schere zwischen arm und reich fortlaufend größer wird. „Reiche haben bessere Möglichkeiten, um etwa die Erbschaftsteuer zu umgehen, das finde ich nicht gerecht.“ Um der Ungerechtigkeit durch die Geburt in gute oder schlechte finanzielle Umstände hinein etwas entgegenzusetzen, fände er zum Beispiel einen Fond gut, in den wohlhabende Menschen einzahlen würden, um damit soziale Projekte für gleiche Bildungschancen zu finanzieren. „Auch eine Vermögenssteuer kann helfen.“

Beide wussten ihre Chancen zu nutzen

Iveen Sulaiman und Timon Marx sind zwei sehr unterschiedliche junge Menschen, die ihren eigenen Weg unbeirrt gehen. Sie wissen, was sie wollen. Und sie legen sich dafür ins Zeug. Der Blick über den Tellerrand ist ihnen wichtig, Respekt vor anderen Menschen und ihr Einsatz für diese selbstverständlich. Der Nachwuchs-Apotheker und die zukünftige Juristin wurden gefördert, von ihren Familien und während ihrer Schullaufbahn. Und beide wussten ihre Chancen zu nutzen. Die um das Jahr 2000 Geborenen werden oft kritisiert: zu verwöhnt, zu unentschlossen, zu anspruchsvoll. Ein genauerer Blick auf diese Generation vermittelt oft andere Erkenntnisse.

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