Essen. Warum hat die Lindemann-Band nach den Negativ-Schlagzeilen wegen Missbrauchsvorwürfen offenbar mehr Erfolg denn je? Einige Vermutungen.
Zwischen den drei gefeierten Auftritten von Rammstein in der Gelsenkirchener Schalke-Arena von 2019 und den fünfen in den nächsten Tagen liegen nicht nur fünf Jahre, sondern auch etliche Schlagzeilen-Gewitter. Der Begriff „Row Zero“, der zuvor meist nur Veranstaltungstechnikern bekannt war, wurde in den letzten beiden Jahren zum Inbegriff für die systematische Rekrutierung von Beischlafkandidatinnen für Bandmitglieder. Heute gehört die eintrittskartenfreie Zone vor der Bühne bei Rammstein wieder allein den Sicherheitsleuten der Veranstaltungstechnik, deren Fachbereich sexuelle Ausbeutung offenbar aufgelöst wurde.
Dabei hatte Rammstein vor allem in zynischer Weise perfektioniert, was im Rock-Business seit Jahrzehnten als das übliche merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Großstädter zur Paarungszeit gilt. Der Rock lebte seit seinen Anfängen von der Rebellion, der Provokation, der Grenzüberschreitung. Und da ging es nicht nur gegen Schnulzen und Schlager, sondern vor allem gegen Sitte, Anstand und Moral. Schon der Begriff Rock‘n‘Roll selbst bedeutet ja nicht etwa „Schaukeln und Wälzen“, wie man es wörtlich übersetzen könnte, sondern – Sex.
Rock‘n‘Roll war eine Befreiungsbewegung – vor allem in Sachen Sex
Seine erste Hymne „Rock Around The Clock“ wurde auch genau so verstanden. Weltweit berühmt-berüchtigt wurde Bill Haleys Song erst durch den Film „Die Saat der Gewalt“ (1955). Als der Rock‘n‘Roller 1958 in der nagelneuen Essener Grugahalle auftrat, gab es Randale: Die Fans wollten trotz der durchgehenden Bestuhlung tanzen, aber die Polizei hatte etwas dagegen. Die Folgen waren Mobiliar-Kleinholz, zerbrochene Fensterscheiben etc.
Rockmusik war der Sound, vielleicht sogar ein Antrieb der Befreiungsbewegung in den 60ern und 70ern, auch und gerade der sexuellen, von den Beatles bis zu den kalifornischen Blumenkindern und den Krautrock-Kommunarden in Deutschland.
Das Befreiende aber geriet mit zunehmender Kommerzialisierung zur blanken Pose. Und recht schnell wussten alle, was Groupies sind: Junge Frauen, die in der Nähe von Popstars, in welcher Form auch immer, Erfüllung suchen und dabei riskieren, zum Wegwerfartikel von Größenwahnsinnigen zu werden. Das verbreitete Wissen darum war bald eine Art von Rock- und Pop-Folklore. Alle wussten, dass es das Groupie-(Un-)Wesen gab, alle gingen schulterzuckend drüber hinweg. Vielleicht auch, weil diese extrem unbürgerliche, fast feudale Lebensart weiterhin für eine Art von Rebellion gehalten wurde. Dauerparty als Lifestyle.
Rammstein zelebrierte die Rebellion mit neuen, anrüchigen Mitteln aus der Nazi-Mottenkiste
Zugleich wurde die Energie der Rebellion von einst zum Turboantrieb für Millionengewinne. Ein marktwirtschaftliches Bewegungsmuster von künstlerischer Innovation zu industrieller Plünderung, das sich mit dem Punk, mit Rap und Hip-Hop, mit Grunge und Techno wiederholen sollte.
Mitte der 90er-Jahre exerzierte Rammstein eine recht neue Form der Rebellion und bediente sich zur Provokation an einem Fundus, der lange Zeit tabu und vielen zu muffig war: Mit Versatzstücken aus Opas Nazi-Mottenkiste bastelte man sich einen Habitus, der auf Raunen, notorisch gerrrrrrolltem „Rrrrr“ und einer mystisch eingedunkelten Blut- und Hoden-Bilderwald fußte. Vielem also, was jenseits von Sitte, Anstand und Moral der alten Bundesrepublik lag, die inzwischen „Political Correctness“ heißt.
Genau die Kreise, die Rammstein damit provozieren wollte, verfielen in einen Alarmismus-Modus und stellten die Band unter Nazi-Verdacht. Dabei wollte sie nur spielen. Es ging um ein Hantieren mit Stacheligem, nicht um Ideologie. Es ging um ein aufsehenerregendes Spiel mit dem Nazi-Feuer, mit Leni Riefenstahl als Video-Star. Um neue, ungeahnte Reize und – neue Grenzüberschreitungen.
Rammstein: Schwermetall, der Ruch des Verruchten und Pyrotechnik
Auch das geriet, ob gewollt oder nicht, zu einer Art Befreiungsbewegung: Das Raunend-Unheimliche beim Reden über den Nationalsozialismus, das von Filmen und Medien wie dem Spiegel mit jeder Hitler-Story zum Zwecke des Nervenkitzels aufs Neue heraufbeschworen wurde, wurde bei Rammstein erst zum Spielmaterial und dann zur Parodie (den Ball nahm dann Walter Moers mit seinen „Adolf, die Nazi-Sau“-Comics und dem „Bonker“-Video auf – schon Charlie Chaplin empfahl ja die Parodie als Kunst-Strategie gegen die Nazis). Und wieder speisten Grenzverletzungen den Kommerz, die Moers-Comics erlebten sechsstellige Auflagen, die Videos wurden millionenfach geklickt.
Rammstein machte mit seinen Stadionkonzerten das Verführerische an den Massenspektakeln der Nazis auch körperlich spürbar (okay, das tut jedes Bundesliga-Derby im Prinzip auch, aber ohne die anrüchigen Symbole). Wenn es gut ausging, funktionierte es bei Rammstein wie eine Art Teufelsaustreibung. Aber das ist natürlich nicht der Grund, warum die Fans in die Hallen und Arenen strömten. Es dürften eher das musikalische Schwermetall, der Ruch des Verruchten und der exzessive Gebrauch von Pyrotechnik gewesen sein.
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Und heute strömen die Fans wie nie zuvor. Als habe es die Anschuldigungen von Frauen, bei After-Show-Partys missbraucht worden zu sein, nie gegeben. Sie sind nach kostspieligen juristischen Breitseiten vor allem von Till Lindemann auch zunehmend verstummt. Er wird die Unschuldsvermutung schon deshalb für sich in Anspruch nehmen, weil eine ganze Gesellschaft das Groupie-Wesen für eine Art Normalfall in einer unnormalen Popstar-Welt gehalten hat und sich jahrzehntelang daran nicht störte. Erst die #MeToo-Bewegung hat ja in dieser Hinsicht die Maßstäbe zurechtgerückt. Erst durch sie ist klargeworden, dass die After-Show-Party so etwas wie die Weinstein-Couch des Musikbusiness waren, nur ohne Aussicht auf Filmrollen. Mit Vorgängen, die mit der Menschenwürde definitiv nicht vereinbar sind.
Was Exzesse angeht, steht Rammstein in einer langen Tradition von den Rolling Stones bis U2
Man weiß nicht immer im Detail, welche Exzesse es bei den Partys der Rolling Stones gegeben hat, bei Deep Purple oder U2. Aber gewundert hätten wir alle uns wenig über das meiste davon. Vielleicht aber doch über das Ausmaß der systematischen Frauengewinnung, die von Rammstein mit der „Row Zero“ betrieben würde. Aber für Fans ist sie wahrscheinlich nur eine weitere Grenzverletzung, deren Masse ja gerade die Anziehungskraft der Band ausmacht.