Essen. Der Philosoph, Soziologe und Professor mit etlichen Hauptwerken ist der Staatsdenker der Bundesrepublik. Am 18. Juni wird er 95.

Als Jürgen Habermas sich vor knapp zwei Jahren, mit über 90, noch einmal in einer aktuellen Auseinandersetzung zu Wort meldete, nämlich in der Debatte um den Ukraine-Krieg, bekam er ganz schön, was auf die Mütze. Habermas wurde für sein typisches, differenziertes Plädoyer, das sich für zurückhaltende Waffenlieferungen aussprach und gleichzeitig darauf beharrte, mit dem Kriegsgegner im Gespräch zu bleiben, von mitunter zynischen Realisten wie Joschka Fischer zurechtgewiesen. Dabei war Habermas damit nur der Philosophie seines Lebens gefolgt, die im permanenten Dialog bleiben will, um entweder recht zu haben oder im Streit einer weitergehenden Einsicht zu gelangen.

Es ist dies eine zutiefst idealistische Haltung, die Politik vom Denken, von den Ideen her betreiben möchte. Nicht anders verhält es sich mit einem seiner vielen Hauptwerke, der „Theorie des kommunikativen Handelns“, die vom „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ schwärmt. Auch sie beruht auf der idealisierten Voraussetzung von gleichberechtigten, einander respektierenden Gesprächsteilnehmern. Letztlich hat Habermas damit der Bonner Republik eine politische Theorie auf den Leib geschrieben, die auf ein sehr undeutsches Lob des Kompromisses hinausläuft.

Jürgen Habermas
Jürgen Habermas (links) mit seinem Verleger Siegfried Unseld (1924-2002) und dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) im Jahr 2001, als ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde. © picture-alliance / dpa/dpaweb | Arne_Dedert

Das zweibändige Werk versucht, Dutzende von philosophischen Positionen wie Adorno und Georg Lukacs, aber auch Soziologen wie Max Weber und Talcott Parsons aus den USA unter einem gemeinsamen Dach miteinander zu vereinbaren. Habermas‘ Kollege Peter Sloterdijk hat angesichts der unmäßigen Gewissenhaftigkeit des Universitätsprofessors etwas gehässig von einem „Genie der Paraphrase“ gesprochen. Der für ein wenig feuilletonistischem Glanz nie um Denkunschärfen verlegene Sloterdijk hat allerdings darin recht, dass Habermas‘ wissenschaftsorientierte Genauigkeit zu einem Stil führt, der in seinen Exzessen fast so schwer lesbar ist wie Immanuel Kant. Als dessen Nachfahre, als Lordsiegelbewahrer der Vernunft, mag sich vielleicht haben wir selbst nicht sehen, aber viele seiner Verehrer tun das.

Jürgen Habermas gehört wie Grass, Enzensberger und Walser zur Generation „Nie wieder“

Jürgen Habermas, 1929 in Düsseldorf zur Welt gekommen und in Gummersbach aufgewachsen, gehört zu jener Generation von Flakhelfern, die als Jugendliche noch das Nazi-Reich erlebt hatten, aber in der Nachkriegszeit schon reif genug für ein felsenfestes „Nie wieder“ waren. Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger gehörten ebenfalls zu diesem Jahrgang. Der Ausgangspunkt von Habermas‘ Denken aber war zunächst die Philosophie von Martin Heidegger, jenem Ordinarius, der die Nazi-Politik philosophisch überhöht hatte und noch 1953 nicht bereit war, seine irrige Position zu räumen. Heidegger, der existenzialistische und zutiefst idealistische Denker.

Peter Sloterdijk spottete über Jürgen Habermas: „Genie der Paraphrase“

Dass er bei dessen linken Antipoden Theodor W. Adorno Assistent wurde, sagt über Habermas‘ geistige Unabhängigkeit genau so viel wie die Tatsache, dass er seine Habilitation dann 1961 jenseits der Frankfurter Schule beim Marburger Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth absolvierte. Das Buch dazu, der „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, ist bis heute das am besten verkaufte Buch von Habermas. Er zeichnet darin nach, wie die Öffentlichkeit im Gegensatz zur feudalabsolutistischen Geheimpolitik das Grundprinzip der bürgerlichen Demokratie ausmacht. Und wie sehr dieses Grundprinzip durch moderne Massenmedien, Werbung und Public Relations wiederum gefährdet ist.

Jürgen Habermas
Jürgen Habermas im August 1981 in seinem Haus in Starnberg. Er hat den gesellschaftlichen Diskurs in den vergangenen Jahrzehnten intensiv analysiert und mitbestimmt. © picture-alliance/ dpa | Roland Witschel

Zeitlebens wird Jürgen Habermas eine Leidenschaft für die kommunikative Verständigung fortentwickeln. Diese Obsession könnte auch etwas damit zu tun haben, dass er als Kind und Jugendlicher etliche Operationen wegen seiner Gaumenspalte erdulden musste – diesen Zusammenhang hat er selber 2004 in einer Rede zur Verleihung des Kyoto-Preises hergestellt.

Mit seiner kapitalismuskritischen Haltung wurde Habermas zu einem Hoffnungsträger der ‘68er-Revolte. Aber er verurteilte deren zunehmende Gewalttätigkeit. 1971 wurde er in Starnberg, wo er bis heute wohnt, gemeinsam mit Carl Friedrich von Weizsäcker Chef des Max-Planck-Instituts zur „Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt“. Und entwickelte sich zu einem Staatsphilosophen der Bundesrepublik. Der die Idee zu einer neuen Art von Nationalismus entwickelte – sie kam mehr von der Theorie her als aus dem Herzen, wurde aber zum geflügelten Wort wurde: Verfassungspatriotismus.

1987 zettelt Habermas mit seinem Schulfreund Hans-Ulrich Wehler den „Historikerstreit“ an

Habermas war früh geprägt von den Radio-Übertragungen der Nürnberger Prozesse. Bis heute ist Auschwitz und die Verhinderung all dessen, was dahin führte, ein Dreh- und Angelpunkt seines Denkens. Deshalb auch zettelte er 1984 den „Historikerstreit“ an, als der konservative Ernst Nolte und andere Geschichtswissenschaftler sich daran machten, Stalins Massenmorde zum heimlichen Ursprung des Holocausts zu stilisieren, mindestens aber die Singularität des industrialisierten rassistischen Tötens zu relativieren.

Im Historikerstreit haben Habermas, sein Schulkamerad Hans-Ulrich Wehler und andere linksliberale Historiker Oberwasser behalten. Aber mit der Idee vom Verfassungspatriotismus einen neuen Nationalismus zu verhindern, gelang ihm nicht. Schon Anfang der 90er-Jahre schwante ihm, dass der Missbrauch von Fortschritts-Ideen im real existierenden Sozialismus „für die geistige Hygiene in Deutschland“ schlimmere Folgen haben würde als der Nationalsozialismus. Er kritisierte die Wiedervereinigung als einen „auf wirtschaftliche Imperative zugeschnittenen Verwaltungsvorgang“, dem jede „demokratische Dynamik“ gefehlt habe. So wissenschaftlich steif Habermas‘ Bücher daherkommen, so elegant ist oft der Stil seiner Essays für die „Süddeutsche“, die „Zeit“ oder die „Frankfurter Allgemeine“.

NETHERLANDS-ERASMUS-PRIZE
Jürgen Habermas spricht im November 2013 im Königspalast von Amsterdam zur Verleihung des Erasmus-Preises an ihn. © ANP/AFP via Getty Images | Jerry Lampen

Jürgen Habermas ist der Staatstheoretiker, der Gesellschaftsdenker der alten Bundesrepublik, der versucht, deren Ideale und Prinzipien ins 21. hinüberzuretten. Er gilt allerdings auch im Ausland als der bedeutendste deutsche Denker. Als man ihn 2001 zu einer Vortragsreise nach China einlud, waren die orthodoxen Marxisten dort entsetzt, keinen westlichen Marxisten und Kritiker des modernen Kapitalismus zu hören, sondern einen „bürgerlichen“ Verteidiger der Menschenrechte. Wochenlang schlugen die Diskussionen in China hohe Wellen.

Vor fünf Jahren hat Jürgen Habermas sich und uns zu seinem 90. Geburtstag ein weiteres Hauptwerk geschenkt, mit einem kokett-ironischen Titel versehen und 1800 Seiten stark: „Auch eine Geschichte der Philosophie“. Habermas aber ist viel mehr als auch ein Philosoph der Bundesrepublik.