Berlin. Traumata wegmalen? So einfach ist es nicht, trotzdem kann Kunsttherapie eine große Wirkung haben. Eine Therapeutin erklärt, was dahinter steckt.

Freude, Wut, Trauer, Verlangen – Kunst löst etwas in uns aus. Deshalb kann sie auch so gut tun, weiß Victoria Belabada aus eigener Erfahrung. Die 25-Jährige ist gebürtige Französin, lebt seit sieben Jahren in Berlin und arbeitet dort als zertifizierte Kunsttherapeutin. Im Interview mit dieser Redaktion erklärt sie, wie wir beim Kreativsein zu uns selbst finden und Traumata überwinden können.

Wie haben Sie Kunsttherapie für sich entdeckt?

Das hat sich ganz natürlich ergeben. Ohne zu wissen, dass es Kunsttherapie gibt, habe ich sie für mich selbst betrieben. In schweren Momenten habe ich angefangen, Dinge aufzuschreiben, sie zu zerschneiden und zu collagieren, darüber zu zeichnen … Irgendwann habe ich dann zum ersten Mal über Kunsttherapie gelesen. In derselben Woche sah ich einen Film, in dem eine Kunsttherapeutin vorkam und fand heraus, dass die Mutter meiner besten Freundin Kunsttherapeutin ist. So kam es, dass ich auch eine werden wollte.

Sie haben Kunsttherapie in Berlin studiert. Wie darf man sich so ein Studium vorstellen?

An der Sigmund-Freud-Universität haben wir genauso viel Theorie wie Praxis, jeder muss über 200 Stunden Praktikum machen. Als Student braucht man einen medizinischen oder künstlerischen Hintergrund und muss einen Bachelorabschluss vorweisen können, um den Master in Kunsttherapie anschließen zu können. Die Dozenten sind Künstler, Kunsthistoriker, Therapeuten oder Psychologen. An manchen Unis ist es Pflicht, selbst eine Therapie gemacht zu haben. Das finde ich gut, denn wenn man anderen helfen will, sollte man den Prozess selbst durchlaufen haben. Wenn auch nur aus Neugier oder Interesse.

Ist Kunsttherapie in Deutschland weit verbreitet?

Sie ist schon etabliert, aber leider übernehmen nicht sehr viele Krankenkassen die Kunsttherapie. Um eine Therapie bezahlt zu bekommen, braucht man eine Diagnose, was ich schade finde. Der Weg zur Heilung ist immer schwer und von unserem Gesundheitssystem noch schwerer gemacht.

Kunsttherapie klingt erstmal selbsterklärend. Aber was kann sie bewirken?

Für die, die Kunsttherapie skeptisch gegenüberstehen: Sie ist für alle geeignet, aber man muss den passenden Therapeuten finden, von dem man sich verstanden fühlt. Wenn man sich in der Therapie nicht wohlfühlt, rate ich, eine Alternative zu suchen. Bei der Kunsttherapie geht es um die Beschäftigung, die gut tut. Nicht alle Menschen sitzen gerne auf einem Sofa und sprechen mit einem Psychologen. In der Kunsttherapie muss nicht so viel geredet werden. Es geht darum, dass der Patient sich als Individuum erlebt, weil er ins Tun kommt, etwas erschafft. Viele Patienten haben das Bewusstsein dafür verloren, dass sie das Subjekt in ihrem eigenen Leben sind, dass sie frei und souverän agieren können. Im Schaffen erlebt die Person diese Selbstständigkeit.

Wie darf man sich so eine Therapiestunde vorstellen?

Wir schauen erstmal, warum die Person zur Kunsttherapie gekommen ist, was sie sich davon verspricht. Ich arbeite lösungsorientiert und ressourcenorientiert, das heißt, es gibt nichts in der Kunsttherapie, was der Patient nicht machen kann und er wird immer abgeholt, wo er gerade steht. Wir Therapeuten leiten und begleiten die Sitzung. Mir ist sehr wichtig, dass der Patient für sich selbst entscheidet und Respekt erleben darf. Der Patient wählt zwischen unterschiedlichen Techniken: Collage, Malerei, Töpfern, Zeichnen, Schreiben. Je nachdem, was die Ziele sind. Kreativität hat keine Grenzen, Kunst sowieso auch nicht.

Das Bild ist gemalt, der Ton getrocknet: Was passiert mit dem Ergebnis?

Der Therapeut bewertet oder interpretiert nichts, sondern stellt Fragen und lässt den Patienten sein Werk deuten. Oft ist es einfacher für ihn, über das Bild zu reden, als über sich selbst. Schon diese Bildbesprechung sagt viel über den inneren Zustand der Person aus. Kunst macht das Unsichtbare sichtbar und das Unbewusste bewusst. Und natürlich bemerkt man über einen gewissen Zeitraum auch eine Veränderung in den Werken selbst: den Formen, Farben, Materialien. Übrigens sagen am Anfang viele: Ich kann doch gar nicht malen, habe keine Kunst mehr gemacht, seit ich klein war. Aber dann stellen sie fest, wie frei sie sich dabei fühlen und wieder mit sich selbst verbunden – durch den kreativen Prozess, ganz ohne Bewertung.

Sie haben vor einiger Zeit Kunsttherapie für ehemalige Prostituierte angeboten. In Ihrer Masterarbeit widmen Sie sich der Frage, inwiefern die Therapie den Aussteigerinnen geholfen hat, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten.

Ja, und zwar noch viel besser als ich es mir vorgestellt hätte. Ich habe die Frauen über ein Jahr begleitet und gemerkt: Sie sind viel selbstsicherer geworden. Sich nicht als Opfer zu sehen und für sich einzustehen, ist sehr wichtig. Sowie sich seiner Fähigkeiten bewusst zu werden, um sein Leben souverän zu führen. Die Frauen konnten vieles loslassen. Diese Entlastung konnte ich in der Therapie beobachten, an der Körpersprache und den entstandenen Werken, aber auch an einer neuen emotionalen Stabilität. Das war eine sehr besondere Erfahrung und es ist sehr schön zu sehen, dass es beiden Frauen gut geht und sie komplett raus sind aus der Prostitution.

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