Essen. Alternative-Königin PJ Harvey kreiert auf ihrem neuen Album eine intime Zuflucht – und das Ergebnis ist betörend, mit leichten Widerhaken.
PJ Harvey war immer schon eine Suchende. Wenige Musikerinnen sind Wiederholungen in ihrer Karriere so konsequent ausgewichen, haben ihre künstlerische Palette dabei so sehr ausgeforscht wie die 53-jährige Singer/Songwriterin aus der südenglischen Hafenstadt Bridport. Als 1992 ihr Debütalbum „Dry“ erschien, trat sie – noch in Trio-Besetzung – mit einem spröde-beseelten, feministisch angehauchten Alternative Rock ins Licht, entwickelte sich solo dann zur düsteren Verführerin und Blues-beeinflussten Geschichtenerzählerin, erkundete Gitarre, Klavier, Autoharp und Saxofon genauso wie die vielen Ausdrücke ihrer Gesangsstimme zwischen spitzen Höhen und sonoren Tiefen.
In jüngerer Vergangenheit gelangte sie schließlich zu einem zugänglichen Alternative-Entwurf, der das große Rad weltpolitischer Betrachtungen mit poetischer Leichtigkeit und ästhetischer Kunstfertigkeit drehte. Harvey hat sich als Schauspielerin ausprobiert, war als Bildhauerin erfolgreich, wurde mehrfach mit dem prestigeträchtigen britischen Mercury Prize ausgezeichnet und 2013 von Queen Elizabeth II. für ihre Verdienste zur Ritterin geschlagen.
Eine verlorene Liebe von PJ Harvey
Wer nun den weltvergessenen, intimen, eigenwilligen Ton von PJ Harveys neuem Album „I Inside The Old Year Dying“ verstehen will, muss ins Jahr 2017 zurückgehen. Damals ist Harvey gerade von ihrer Tour zum Vorgängeralbum „The Hope Six Demolition Project“ zurück und steckt in einer Sinnkrise: Nicht nur ihre Zukunft als Musikschaffende stellt sie infrage – ihre Liebe zu Musik insgesamt scheint nach mehr als 25 Jahren im Musikgeschäft verloren. „Ich kann gar nicht ausdrücken, wie sehr es mir das Herz brach“, sagt Harvey. „Musik war immer alles für mich gewesen; mein Weg zum Verstehen.“
Den Weg zurück ebnet ihr die Erinnerung an ein Treffen mit Filmregisseur Steve McQueen („12 Years A Slave“): Der legte Harvey seinerzeit nahe, sich ihrer Kunst wieder persönlicher, intuitiver und emotionaler zu nähern. Ebenso heilsam wirkt die Begegnung mit den Songs jener Musikerinnen und Musiker, die Harvey schon lange liebt: Wenn sie sich ans Klavier setzt oder die Gitarre zur Hand nimmt und Songs von Nina Simone und Louis Armstrong spielt, von den Stranglers und The Mamas And The Papas, dann spürt sie, dass da noch etwas in ihr lodert.
PJ Harvey und „I Inside The Old Year Dying“: Alles wieder ganz klein
Der Schlüssel zu einem neuen Album wird schließlich Harveys 2022 veröffentlichter Versroman „Orlam“: Die Coming-of-Age-Chronik über das letzte Kindheitsjahr eines Mädchens, verfasst im Dialekt ihrer südwestenglischen Heimat Dorset und erfüllt von magischem Realismus und Naturpoesie, trägt ohnehin schon eine große Musikalität in sich. Harvey adaptiert einige der Gedichte als Songtexte für ihre neue Platte; es ist nicht das erste Mal, dass sie ihre Kunst über mehrere Medien erstreckt: Bereits ihr erstes Buch, der Gedichtband „The Hollow Of The Hand“ (2015), fußte auf den gleichen Reiseeindrücken, die kurz darauf auch ihr Album „The Hope Six Demolition Project“ (2016) inspirierten.
Harvey beherzigt den Rat von Steve McQueen und wendet sich ab von der weltläufigen, politisch-poetischen Konzeptkunst, die sie schon auf dem preisgekrönten „Let England Shake“ (2011) perfektioniert hatte. „Ich hatte große Sehnsucht danach, alles wieder ganz klein zu machen“, sagt die 53-Jährige.
PJ Harvey mit John Parish und Produzent Flood im Team
Mit ihrem Kreativpartner John Parish und Produzent Flood, beides langjährige Weggefährten Harveys, nimmt sie die Songs live im Studio auf. Immer wieder finden spontan improvisierte Klangideen erst im Moment ihres Entstehens den Weg auf das Album. „Als ich jünger war, hatte ich ein starkes Bedürfnis, die Musik unter Kontrolle zu behalten“, sagt Harvey. „Jetzt, wo ich älter bin, erscheint mir das viel weniger wichtig, als einfach zu sehen, was im Moment entstehen kann.“
Die Suche nach immer neuen Ausdrucksformen prägt das Werk von Harvey schon lange, hier nun wird sie zur Mission: Wann immer die Musikerin in ihrer altbekannten „PJ-Harvey-Stimme“ singt, fordert ihr Produzent sie wieder heraus, bis sie anders als bisher klingt. Auf „I Inside The Old Year Dying“ äußert sich das vermehrt in Form gläserner Kopfstimmen, aber auch in A-capella-Passagen oder vibrierender Stimmakrobatik, die hörbar nicht auf technische Perfektion zielt, sondern einem Gefühl tief aus dem Inneren Ausdruck verleiht.
Hier ein bisschen Portishead, dort ein bisschen Tori Amos
Auch die Musik sucht das Ureigene: Oft verfremden Klangeffekte Gitarre und Klavier, ohnehin sind die organischen Instrumente meist mit 70er-Jahre-Synthesizern und Field Recordings (Kinderstimmen, Vogelzwitschern, summende Bienen, blökende Schafe…) zu wässrig wabernden Klangteppichen verwoben. Als deren Motor fungieren je nach Song elektronisch angemachte Beats oder sachte Percussion. Darüber thront Harvey mit einem Gesang, der kleine Ausflüge in Richtung Northern Soul, Jazz und Dissonanz unternimmt. In seiner zartkalten Entrückung erinnert dieser Singer/Songwriter-Alternative vage an den TripHop von Portishead – während einen die naturverbundene, intime Exaltiertheit dieser großen Alternative-Künstlerin auch an das Werk von Tori Amos denken lässt.
All das macht „I Inside The Old Year Dying“ zu einem sperrigen, aber betörenden Meisterwerk. Der naturmystische Stoff von „Orlam“ verbindet sich mit Harveys sinnsuchender Fragilität zu einer sehr menschlichen, seltsam trostspendenden, dabei aber stets uneindeutigen Musik. Sie wirkt ort- und zeitlos, in ihrer Enthobenheit wie ein Refugium vor der Wirklichkeit, wie eine Zwischenwelt auf halbem Wege von Kindheit und Erwachsensein, Traum und Realität, Natur und Zivilisation, Nostalgie und Gegenwärtigkeit. „Ich bin an einem Ort, wo ich vorher noch nicht war“, sagt PJ Harvey über das Album. „Und man kann ihn betreten und sich darin verlieren.“
„I Inside The Old Year Dying“ von PJ Harvey erscheint am 7. Juli bei Partisan Records.