Bonn. Universum der Umbrüche: Die Ausstellung „1920er. Im Kaleidoskop der Moderne“ in Bonns Bundeskunsthalle blickt auf ein faszinierendes Jahrzehnt.
Deutschland hat keinen Kaiser mehr – und plötzlich gibt es einen neuen Typ Frau. Sie hat Hosen an, raucht und darf wählen! Deutschland hat den Krieg verloren – und die Menschen der Großstadt feiern ekstatisch wie nie zuvor.
Vielleicht zeigt ein Detail in der Schau „1920er. Im Kaleidoskop der Moderne“ eine Ursache. Ganz außen, nur als Skizze ahnbar, steht auf Otto Dix’ „Großstadt-Triptychon“ einer, dem sie 14/18 das Bein weggeschossen haben, verdammt zum Betteln. Aber niemand hört oder sieht ihn, zu betäubend schön das Zentrum des Bildes der Tanz mit Halbnackten, das satte Röhren des Saxophons, das Kokain.
Trinken aus dem Blechnapf als Privileg der Schönen und Reichen
Die 20er-Jahre: Ganz nach vorn fixiert („neu“ ist das Wort der Stunde), unbedingt vergessen, was war. Aber auch: den Moment feiern in einer Entgrenztheit, die sich nicht nur in Curt Morecks „Führer durch das lasterhafte Berlin“ präsentiert, einer Kneipenkunde aus den Tagen, da die Lokale „Sing Sing“ hießen und dort das Trinken aus dem Blechnapf ein Privileg der Schönen und Reichen war. Ein Foto schräg gegenüber zeigt „Koks Emil“ mit Kundinnen, recht ungeniert auf offener Straße: Er muss eine Berliner Institution gewesen sein.
Die Bundeskunsthalle erzählt in einer ehrgeizigen Schau mit vorbildlich „sprechenden“ Ausstellungsstücken von einer Epoche, die ein Mythos umweht wie wohl keine andere des vorigen Jahrhunderts. Charmant labyrinthisch hat Kuratorin Agnieszka Lulínska dieses Universum der Umbrüche im Parterre des Museums aufgebaut. Zwar trennt sie „Metropole“, „Menschenbilder“ und „Lebenswelten“ in Themenbereiche, aber es liegt regelrecht in der Luft, wie alles miteinander korrespondiert.
Hektische Fotografien der tosenden Großstadt
Hier noch der breitschultrige Bürger, dessen spürbar lüsterner Blick (obschon wir dem Mann in einem von Frans Masereels Stadt-Bildern nur über den Rücken schauen) die Auslage im „Corset“-Geschäft der Metropole mustert, ein paar Meter weiter die fein gesponnenen Sündenhüllen aus den Ateliers von Coco Chanel und anderen. Hier die hektischen Fotografien der tosenden Großstadt, auf denen die Pferdewagen im Automobilstrom schon wie Getriebene wirken, dort ein ungepolsterter Geist der Unruhe und Abwehr aller altdeutschen Gemütlichkeit, wie ihn die „hinterbeinlosen“ Stühle von Marcel Breuer oder Ludwig Mies van der Rohe beschwören.
Und bestechend gute Porträts in reicher Zahl sehen wir in Bonn. Vielleicht waren die 1920er nach der Renaissance die größte Zeit für das Genre: Sehnsucht nach Individualität als Kunst, wie stets vergeblich. Die Elite inszeniert sich – oder wird stilisiert. Übermächtig ist das den Frauenbildnissen von Tamara de Lempicka (Roaring Twenties-Diva durch und durch) anzusehen, die Kühle und Sinnlichkeit auf eine bis heute extrem bannende Magie legieren. Aber diese Menschenbildnerei weitet ihr Reich in planvoller Barrierefreiheit. Es sind neben der Elite zugegen: Revue-Größen! Karl Hofers Gemälde „Tiller-Girls“ ist eines der wunderbarsten Exponate und enthüllt listig nicht zuletzt das Austauschbare jener körperlichen Perfektion, nach der die Oberschicht der Zeit strebte.
Ein seltsamer Widerspruch zur Schampus-Dekadenz
Apropos Perfektion: Ernährung wurde zum Thema (seltsamer Widerspruch zur Schampus-Dekadenz), erst recht der Leistungssport. Er gebar, wie Turnvater Jahn es nie gekannt hatte, Idole in Mannschaftsgröße. Künstler der Zeit adeln die Sportler vielfach. Wir fragen nicht, welcher Lüpertz zu Lothar Matthäus herabstiege, aber Max Beckmanns „Rugbyspieler“ von 1929 können in ihrer Laokoon-artigen Verschlungenheit aus Kampfgeist, Biss und Kraft die Bewunderung des Malers für einen schnöden Ballsport schwerlich verhehlen. Boxer erfahren Ähnliches, und Männer in (fast) fliegenden Kisten erst recht: Kaum ist der schnittige Bugatti 35 B auf dem Markt, huldigt ihm der Maler Rafał Malczewski – als „Automobil vor der Winterlandschaft“.
Im Glanz der Bewunderung solcher Phänomene, deren Riege der Maschinenmensch aus Fritz Langs „Metropolis“ anführt, verschweigt die Ausstellung nicht, dass dem versnobten Tanz auf diversen Vulkanen aus Trends und Lustbarkeit Massen in Armut gegenüberstehen. Käthe Kollwitz’ ausgemergelte Mutter mit Kind illustriert 1924 die KPD-Forderung „Nieder mit dem Abtreibungsparagraphen!“, und Franz M. Jansens Holzschnitt entfernt – wie das Theater – die vierte Wand und lässt uns als Erbe Zilles die Geschosse eines Kölner Mietshauses erblicken im ganzen Elend auf vier Etagen.
Gewiss: Die Extreme der Zeit waren andere, aber in der Zerrissenheit durch das Versinken von Altvertrautem und dem Vabanque-Spiel, im Neuen Heil zu suchen, spricht diese Schau in vielen Zungen zu uns Nachgeborenen.
Zur Ausstellung
Die Ausstellung läuft bis zum 30. Juli, Dienstag bis Sonntag, 10-19 Uhr. Eintritt: 13 € (erm. 6,50 €) Bis 18 Jahre frei. Helmut-Kohl-Allee 4, Bonn, Tel. 0228-9171200. Der durch spannende Quellen und Aufsätze überzeugende Katalog kostet 35 €.