Bochum. Yunus Kimyonok ist gesichtsblind. Selbst vertraute Menschen erscheinen fremd – bis er ihre Stimme hört. Vom Leben mit einer seltenen Eigenschaft.

Wenn sich Yunus Kimyonok mit Bekannten verabredet, kann es passieren, dass der Bochumer sie erst spät bemerkt, obwohl sie schon länger neben ihm standen. Vor allem, wenn der 29-Jährige zuvor ihre Stimme nicht gehört hat.

Für Menschen wie ihn, die keine Gesichter erkennen können, kann es im Alltag häufig zu unangenehmen Situationen kommen. So wird eine Mitarbeiterin der Uni zum Beispiel von ihren Kollegen auf dem Flur gegrüßt, kann diese aber nicht zuordnen. Oder ein Lehrer steht vor seiner Schulklasse und ruft andauernd die falschen Namen auf, weil die Kinder sich umgesetzt haben. Das Phänomen heißt Prosopagnosie, auch Gesichtsblindheit genannt. Dabei handelt es sich um eine Variation im Gehirn, die dazu führt, dass Betroffene keine Gesichter wahrnehmen können.

Von klein auf hat Yunus Kimyonok unterbewusst Strategien entwickelt, Menschen anhand anderer Merkmale zu identifizieren. Vor allem über die Stimme gelinge das sehr gut. „Deshalb habe ich das mit der Gesichtsblindheit auch erst mit Anfang 20 so richtig gemerkt.“ Zwar habe er seine Grundschullehrerin schon vor allem an den Röcken und Kleidern erkannt, die sie stets trug. Allerdings sei es ein Prozess gewesen, herauszufinden, was mit ihm los ist. „In der Unizeit habe ich dazu recherchiert und mich in der Diagnose wiedergefunden“, sagt der studierte Informatiker.

An der Ursache wird noch geforscht

Boris Suchan, Neuropsychologe an der Ruhruniversität Bochum.   
Boris Suchan, Neuropsychologe an der Ruhruniversität Bochum.   © Unbekannt | Susanne Troll

Boris Suchan, Leiter der Abteilung Klinische Neuropsychologie an der Ruhr-Universität Bochum spricht von zwei Varianten der Gesichtsblindheit: der angeborenen, wie es bei Yunus Kimyonok der Fall ist, und der, die beispielsweise nach einem Schlaganfall entsteht. Der Prozentsatz der Menschen, die seit ihrer Geburt an Prosopagnosie leiden, sei deutlich höher. „Meist stellen die Jugendlichen das im Alter von 15, 16 durch Recherchen im Internet fest“, sagt Suchan. „Und meist sind sie dann auch froh, endlich eine Diagnose zu bekommen.“

An der genauen Ursache für die Gesichtsblindheit wird noch geforscht. Unter den Betroffenen gebe es allerdings familiäre Häufungen, so der Neuropsychologe, was darauf hindeute, dass die Prosopagnosie genetischen Ursprungs sein kann. „Im Gehirn gibt es den sogenannten visuellen Kortex, den Ort, an dem das Gesehene verarbeitet wird“, erklärt Suchan. „Und da gibt es speziell ausgebildete Areale, die auf verschiedene Inhalte spezialisiert sind, wie zum Beispiel auf die Verarbeitung von Gesichtern. Wenn da eines dieser Areale nicht richtig verschaltet ist, kann ein Gesicht nicht richtig verarbeitet werden.“

Großteil der Bevölkerung kann sich so eine isolierte Erkrankung nicht vorstellen

Schätzungsweise sind etwa zwei Prozent der Menschen von der angeborenen Form der Gesichtsblindheit betroffen. Suchan geht von einer viel höheren Dunkelziffer aus. „Betroffene berichten von Familienangehörigen, an denen sie das Phänomen auch beobachten.“ Allerdings sei es keine direkt erkennbare Behinderung wie bei jemandem, der im Rollstuhl sitzt oder einen Blindenstock benutzt. Es fehle an Aufklärung. „Ein Großteil der Bevölkerung kann sich so eine isolierte Erkrankung gar nicht vorstellen.“

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Bei der zweiten Variante führen Tumore im Gehirn oder Schlaganfälle erst zur späteren erworbenen Gesichtsblindheit. „Für diese Menschen ist es meist noch schwieriger, damit umzugehen, weil von jetzt auf gleich alles anders ist. Wenn man von Kindesbeinen an Strategien entwickelt hat, fällt den Betroffenen der Alltag häufig einfacher“, sagt Boris Suchan. Doch auch da gebe es Tücken: „Wenn sich Betroffene beispielsweise an der Frisur einer Person orientieren und diese dann plötzlich zum Friseur geht, fällt die Strategie hinten über.“

Heilung gibt es nicht

Dadurch dass Yunus Kimyonok die Menschen schnell an ihrer Stimme erkennt, hat er im Alltag kaum Schwierigkeiten. „Denn auch wenn ich eine Person zehn Jahre nicht mehr gesehen habe, kann ich sie anhand ihrer Stimme schnell zuweisen.“ Trotzdem komme es vor, dass er Menschen kennenlerne, die er beim nächsten Treffen nicht mehr wiedererkenne. Yunus Kimyonok muss lachen. Das muss er häufig, wenn es um seine Eigenschaft geht. So nennt er die Prosopagnosie, denn eine Krankheit oder eine Behinderung ist das für ihn nicht. „Mein enges Umfeld erkenne ich wieder“, weshalb er auch nicht nach Heilung suche.

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„Heilung gibt es auch nicht“, sagt Neuropsychologe Boris Suchan. Deshalb rät er Betroffenen, offensiv mit ihrer Diagnose umzugehen und andere Menschen darüber aufzuklären. „Wichtig ist es, den Menschen zu zeigen, dass kein böser Wille dahintersteckt, wenn man sie auf der Straße nicht direkt erkennt.“ Schnell würden sich Menschen auf den Schlips getreten fühlen und dem Prosopagnostiker eine böse Absicht unterstellen. Darunter würden auch Betroffene verständlicherweise leiden. Suchan: „Wir hatten einen Fall, bei dem die Patientin ihren Vater nicht erkannt hat, als dieser vor der Tür stand.“

Eine andere Prosopagnostikerin sei Mitarbeiterin an einer Universität, wo es regelmäßig zu unangenehmen Situationen komme. „Wenn die Betroffene durch die Gänge der Uni läuft, kommt es vor, dass sie ihre Kollegen nicht erkennt. Das stößt bei vielen auf Unverständnis, weil unser Miteinander ja darauf basiert, Leute zu erkennen und zu grüßen.“

Wenig sichtbar, wenig Verständnis

Wenn Betroffene nicht darüber sprechen, könne es zu sozialem Rückzug kommen. Und diese Isolierung könne wiederum zu sozialen Ängsten führen. Der Leidensdruck kann dadurch erheblich werden, sagt Boris Suchan. Prosopagnosie erfahre in der Gesellschaft wenig Sichtbarkeit und dadurch auch häufig wenig Verständnis.

In einer Facebook-Gruppe, tauschen sich 2700 Mitglieder regelmäßig über ihre Erfahrungen aus. So schreibt eine Nutzerin, dass sie sich kürzlich im Spiegel nicht wiedererkannt hat. Situationen wie diese kennt Yunus Kimyonok nicht. Trotzdem kommt es vor, dass auch er im Alltag vor Hürden steht. „Unsicher habe ich mich vor allem früher beim Dating gefühlt. Ich hatte immer Angst, dass ich die Frau, die ich neu kennenlernte, vielleicht nicht erkennen könnte“, erinnert sich Yunus Kimyonok. Und muss wieder lachen. „Da haben mir aber meine sehr prägnanten Haare geholfen. So hat man mich schnell von Weitem erkannt und angesprochen.“ Außerdem, so glaubt er, sei die Gesichtsblindheit bei ihm nicht so stark ausgeprägt.

Heute assistiert ihm seine Freundin. „Am Anfang konnte sie das nicht richtig begreifen, dass ich keine Gesichter erkennen kann“, sagt er und schmunzelt. Bis sie es dann hautnah miterlebt habe. Ihm hilft es, einen konstanten Kreis an Menschen um sich zu haben. So zum Beispiel sein Team auf der Arbeit. Im Januar 2019 hat er die IT-Firma Platri IT GmbH gegründet. „Für Zahlen bin ich geboren“, sagt er. „Schon als kleines Kind saß ich jede freie Minute, die ich durfte, am PC. Mich hat interessiert, wie die Spiele, die ich regelmäßig gespielt habe, entwickelt wurden und ob ich da etwas verändern kann.“ Und vielleicht ändert er durch seinen offenen Umgang mit der Gesichtsblindheit auch etwas in den Köpfen der Menschen.

>>> Die Gesichtserkenner

Im Gegensatz zu Menschen mit Prosopagnosie sind sogenannte „Super-Recognizer“ Menschen, die sich überdurchschnittlich gut Gesichter einprägen und diese wiedererkennen können. Zurzeit geht man davon aus, dass ein bis zwei Prozent der Weltbevölkerung über diese Fähigkeit verfügt. Die Polizei arbeitet häufig mit Super-Recognizern zusammen, da sie sich auch nach langer Zeit noch an Gesichter erinnern können und gut darin sind, Kriminalfälle mit aufzuklären.