Essen. Künstler und Gründer erhalten kostenlos Räume, Technik, Bühne und vieles mehr werden für die Kreativen zur Verfügung gestellt, dafür stehen alle Räume Besuchern offen. Das Unperfekthaus in Essen erfindet sich neu: mit Speaker's Corner und Fassaden-Wanderweg. Und es will das Revier mitziehen.

Der Künstler Ariyadasa Kandege hat sein Atelier im Unperfekthaus. Er hat sich auf Ansichten des Ruhrgebietes spezialisiert. Foto: Matthias Graben / WAZ FotoPool
Der Künstler Ariyadasa Kandege hat sein Atelier im Unperfekthaus. Er hat sich auf Ansichten des Ruhrgebietes spezialisiert. Foto: Matthias Graben / WAZ FotoPool © WAZ FotoPool | WAZ FotoPool





Baustellen inspirieren. Sie zwingen zum Denken und Machen, einfach weil sie so unfertig, so unperfekt sind. Jedenfalls ist Reinhard Wiesemann dieser Gedanke auf einer Baustelle gekommen: „Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Perfektionsgrad einer Umgebung und der Anzahl der Leute, die aktiv werden können.” Anders ausgedrückt: Perfektion ist langweilig. Also hat der Erfinder und Unternehmer sich das Unperfekthaus ausgedacht – ein Haus, in dem die Räume umsonst an kreative Menschen abgegeben werden. Ein Baumarkt der Möglichkeiten also.

Vor fünf Jahren hat Wiesemann darum ein verlassenes Franziskaner-Kloster in der Essener Innenstadt erstanden, einen Betonklotz mit dem Charme eines Parkhauses, aber mit einer trefflichen Raumaufteilung. In den rund 50 ehemaligen Mönchszellen arbeiten nun Maler und Musiker, Klangschalenmasseurinnen und Kaffeeröster. Alle Räume stehen den Besuchern offen, sie sollen hier schnuppern und quatschen, die Angezogen-Sauna besuchen oder das Erlebnis-Klo – alles für 5,50 Euro inklusive Getränke-Flatrate.

Fit werden für die Kulturhauptstadt

Bei Geschäftsleuten ist das Unperfekthaus sehr beliebt. In ruhiger und z.T. bunt gestalteter Atmosphäre läßt es sich gut arbeiten. Es stehen Gastronomie-, wie auch Konferenzräume zur Verfügung. Der Wintergarten direkt unter dem Dach ist sehr beliebt. Foto: Matthias Graben / WAZ FotoPool
Bei Geschäftsleuten ist das Unperfekthaus sehr beliebt. In ruhiger und z.T. bunt gestalteter Atmosphäre läßt es sich gut arbeiten. Es stehen Gastronomie-, wie auch Konferenzräume zur Verfügung. Der Wintergarten direkt unter dem Dach ist sehr beliebt. Foto: Matthias Graben / WAZ FotoPool © WAZ FotoPool | WAZ FotoPool





Das Haus mit der wunderbaren Dachterrasse sollte also wuseln, tut es aber nicht zu jeder Tageszeit. Denn seit rund eineinhalb Jahren ist die Gedankenbaustelle im Schatten des neuen Karstadt-Komplexes am Limbecker Platz umzingelt von ganz realen Baustellen, und das Projekt drohte, daran zu ersticken. Die Zufahrtsstraße und die Parkplätze sind gesperrt, Laufkundschaft kommt kaum mehr. Rund 200 zahlende Besucher pro Tag bräuchte Wiesemann, rund 80 bis 100 sind es derzeit. Den Mittagstisch hat er längst streichen müssen.

Wenn die Baustellen bald weichen, dann muss das Unperfekthaus sich neu erfinden. Es soll fit werden für die Kulturhauptstadt, und Wiesemann wäre kein Erfinder, wenn nicht viele ungewöhnliche Ideen eine Rolle spielen würden: Auch Gärten inspirieren. „Warum gibt es nicht mehr wetterfeste Kunst?”, fragte sich der 49-Jährige, schreibt nun einen Wettbewerb aus und lässt eine Fassadengalerie bauen, Deutschlands mutmaßlich ersten „vertikalen Kunstwanderweg”.

Aufmerksamkeit wird auch die „Speaker's Corner 2.0” erregen. In rund einer Woche soll sie fertig werden, die erste öffentliche Redner-Ecke des Ruhrgebiets. Die Redelustigen können sich dann Beamer und Lautsprecher ausleihen – und haben ihren großen Auftritt, wo zwei Welten sich berühren: das anarchistische Unperfekthaus und das luxuriöse Kaufhaus – die vielleicht metropolitanste Ecke des Ruhrgebiets.

Zentrum für Spielereien

Die Physiker Gerold Geist und Michaele Meßer (v.r.n.l.) unterstützen die im Haus untergekommenen Künstler mit technischen Instalationen. Foto: Matthias Graben / WAZ FotoPool
Die Physiker Gerold Geist und Michaele Meßer (v.r.n.l.) unterstützen die im Haus untergekommenen Künstler mit technischen Instalationen. Foto: Matthias Graben / WAZ FotoPool © WAZ FotoPool | WAZ FotoPool





Wie man so etwas hinbekommt? Wiesemann rief einfach bei der Stadt an und „nach fünf bis sechs Tagen waren die Planer Feuer und Flamme”. Bei der Stadt hat man nach längerer Fremdelei offenbar erkannt, welches kreative Potenzial in diesem Ideenmacher und seinem ungewöhnlichen Haus steckt.

Zum Beispiel diskutieren die Wirtschaftsförderer derzeit den „Gadget-Cluster”. Die Leerstände auf der Viehofer Straße müssten nicht sein, findet Wiesemann. Auf der Straße finden sich schon viele Anbieter von Computer-Teilen – warum also kein Zentrum für technische Spielereien schaffen? Vom Segway-Elektroroller bis zum iPhone-Accessoire – der richtige Name ist alles. Das Unperfekthaus will das Revier mitziehen.

Auch eine seiner „echten Erfindungen” lässt Wiesemann verbauen, wenn das Unperfekthaus generalüberholt wird: den Heizturbo. „Waagerechtes Einblasen der Heizungsluft macht Räume in fünf bis zehn Minuten mollig warm.” Unglaublich, aber wahr: Bisher ist niemand auf die Idee gekommen, eine Heizung mit einem Ventilator zu kombinieren.

Kampf gegen den Duden

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Der Mann mit den sprühenden blauen Augen gewann schon mit 18 Jahren einen Erfinderwettbewerb, er gründete eine Firma für Computerschnittstellen und modelte die Industriellenvilla Vogelsang auf den Ruhrhöhen in das noble Linux-Hotel um. „Ich probiere sehr viel aus und lerne”, sagt Wiesemann. Wohlgemerkt: lernen statt scheitern. Nur was das Unperfekthaus angeht, ist er vorsichtig geworden „Wir schaffen jetzt die Voraussetzungen, dass es denkbar ist, nächstes Jahr in die Gewinnzone zu kommen.”

Das Haus hat bisher überlebt, weil Wiesemann zuschießt. Aber als reinen Idealisten sieht er sich nicht: „Ich habe ganz klar eine Gewinnabsicht.” Überhaupt findet er, dass sich Selbstlosigkeit und Eigennutz nicht ausschließen, sondern ergänzen. Auch wenn der Duden Altruismus und Egoismus als Gegensätze definiert – eine Überzeugung, die vor Jahren in die „Kampagne gegen den Duden” mündete.

„Jedenfalls ist es unheimlich schwer, Firmen zu überzeugen, mit unüblichen Sachen zu werben”, musste er lernen. Auch sein „Kulturkumpel” – ein Anzeigenblatt, das Kulturschaffende und Unternehmen zusammenbringen sollte, ist gefloppt. Aber Wiesemann lernt. „Ich glaube immer mehr, dass das Experimentieren eine unglaublich wertvolle Verhaltensweise ist, die viel mehr propagiert werden muss. Das Innovationsministerium sollte eigentlich Experimentierministerium heißen!” Und so meint er auch das Unperfekthaus: als Experimentierhaus. Es ist seine Antwort darauf, „dass wir Menschen eben nicht so schlau sind, dass wir den Erfolg planen könnten”.