Essen. Sie reisen dem Ball hinterher, sammeln Länderpunkte und Stadien: Groundhopper sind Exoten unter Fußballfans. Was den Reiz am „Hoppen“ ausmacht.
In den engen Gassen rund um „La Bombonera“ singen und tanzen Männer, Frauen, Kinder, obwohl das Spiel erst in wenigen Stunden beginnt. Die Boca Juniors treffen auf River Plate und die Fans können den Anpfiff des „Superclasicos“, eines der legendärsten Derbys im Weltfußball, kaum abwarten. Als die Mannschaften im grellen Schein der Flutlichter endlich das Spielfeld betreten, steigen Feuerwerksraketen in den Himmel von Buenos Aires, eingerahmt von 54.000 Zuschauern auf den Tribünen. Mitten unter ihnen: Tizian Canizales. Gedanklich macht er ein Häkchen auf seiner langen Liste der Fußballstadien.
Der 23-Jährige kann sich noch gut an das Spiel erinnern, dabei liegt es fast zwei Jahre zurück. Er hat so ziemlich jedes Fußballspiel im Kopf, das er in seinem Leben schon gesehen hat. Und das sind immerhin 377. Tendenz: steigend.
Canizales ist ein Groundhopper, ein Fußballfan der besonders verrückten Sorte. „Hopper“ reisen kreuz und quer durch die Republik und die ganze Welt, immer auf der Suche nach der nächsten Partie, dem einen neuen Stadion, das sie noch nie besucht haben. Warum tun sie sich das an?
Groundhopper lernen die Welt kennen – im Namen des Fußballs
„Der Reiz liegt für mich darin, neue Stadien und Ecken in der Welt zu sehen. Und sei es, dass ich nach Meerbusch fahre – eine Stadt, die ich sonst wohl niemals besucht hätte“, erklärt Canizales. Ein Schulfreund nahm ihn 2017 zum Spiel des SV Wehen Wiesbaden gegen Carl Zeiss Jena mit. Was für andere Grund genug wäre, nie wieder ein Fußballstadion zu betreten, ließ Canizales zum Groundhopper werden. „Seit dem Spiel bin ich Feuer und Flamme, Partien von verschiedenen Vereinen zu sehen.“ Fußball mit Reisen verbinden – für ihn ist das die perfekte Kombination.
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In den knapp sechs Jahren, die er als „Hopper“ unterwegs ist, hat er 196 verschiedene Stadien in 13 Ländern gesehen – zum Beispiel Argentinien. Ein halbes Jahr lebte Canizales in Buenos Aires, der Journalismus-Student aus Gelsenkirchen machte dort ein Auslandssemester. Dass die Wahl auf Argentinien fiel, war kein Zufall. „Ich habe den Ort unter anderem nach Groundhopping-Gesichtspunkten ausgesucht. Buenos Aires gilt gemeinhin als Mekka für ‚Hopper‘. Es gibt so viele Traditionsvereine, und durch das südamerikanische Flair, das dort herrscht, ist es ein ganz anderes Stadionerlebnis als in Europa. Der Fußball wirkt dort viel purer.“
Der Besuch des „Superclasicos“ war für ihn ein Highlight. Einmal in Südamerika, bereiste er auch Paraguay, Uruguay und Brasilien – und sammelte dort jeweils den „Länderpunkt“ ein. Der steht im Groundhopping-Sprech für den ersten Stadionbesuch in einem Land.
Erste Groundhopper reisten in den 1970er-Jahren durch England
Nicht immer jagen Groundhopper dem großen Fußball in der Welt hinterher, das zeigt der Blick auf die Anfänge der Subkultur. Der Begriff setzt sich aus den Wörtern „Ground“ (Stadion) und „to hop“ (hüpfen) zusammen und kam in den 1970er-Jahren in England auf. Der Brite Geoff Ross hatte die Idee, eine Krawatte für Fans zu produzieren, die das Kunststück vollbracht hatten, alle 92 Stadien der vier englischen Profi-Fußballligen zu besuchen.
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Vier Jahre später entstand der 92 Club. Die Mitglieder mussten alle besuchten Stadien mit Datum, Ergebnis, beteiligten Mannschaften und der Zuschauerzahl dokumentieren. Das Hobby schwappte in den 1990er-Jahren nach Deutschland herüber. Wie groß die hiesige Szene ist, lässt sich kaum beziffern, zumal Groundhopping nicht auf Fußball beschränkt ist. Auch in anderen Sportarten gibt es „Hopper“. Es dürften Tausende sein.
Die Subkultur vereint im Fußball die Fans, die auf der Suche nach der Seele des Spiels sind. Sie lässt sich am ehesten in Stadien finden, in denen Cristiano Ronaldo und Lionel Messi nie spielen würden. Dort, wo die Kommerzialisierung weit weg ist. Wo es keine Halbzeitspiele gibt, die von chinesischen Wettanbietern präsentiert werden. Wo sich die Wurst noch bar und nicht mit einer vereinseigenen Bezahlkarte kaufen lässt. Und so stehen Groundhopper mitunter schon einmal an einem nasskalten Februarsamstag auf einer Stehtribüne ohne Dach und schauen sich ein 0:0 zwischen zwei Teams an, deren Stürmer das leere Tor nicht mal aus zwei Metern Entfernung treffen würden.
Warum „Hopper“ keine Hochglanzarenen brauchen
Auch Timo, ein „Hopper“ aus Bochum, nennt keine hochmodernen Bundesliga-Arenen, sondern Plätze in der Provinz als Beispiele für „Grounds“, die ihm im Gedächtnis geblieben sind. Mitten im thüringischen Nirgendwo trägt Kali Werra Tiefenort, ein Kreisligist, sein Heimspiel aus. Im „Stadion im Kaffeetälchen“. Für Timo, der nicht mit seinem Nachnamen in der Zeitung stehen möchte, war es ein besonderes Spiel. Der Charakter des Stadions hat es ihm angetan.
„Der Besuch hat mir unglaublich viel Spaß gemacht. Die Gastfreundschaft war riesengroß“, erinnert sich Timo, der unter dem Namen „ruhrgebiet_hopper“ auf Instagram bloggt. „Ich habe glatt das Spiel und das Ergebnis vergessen und vielmehr das abgerockte Stadion mit seinen moosbewachsenen Stehplätzen und die Zeit mit den Leuten, die neben mir standen, genossen.“
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Der 21-Jährige ist Fan des VfL Bochum und seit knapp zwei Jahren ein „Hopper“. Er hat sich in fünf unterschiedlichen Ländern 565 Spiele in 272 Stadien angeschaut – trotz der Corona-Pandemie. Die hat den reisewütigen Fans besonders zugesetzt. Ligen pausierten ihren Spielbetrieb oder wurden ganz abgebrochen, Geisterspiele machten Besuche von Partien schier unmöglich. Timo hat es dennoch zu einem dieser Spiele geschafft, die eigentlich vor leeren Rängen ausgetragen wurden. „Das war in den Niederlanden, das Geisterspiel-Derby zwischen dem FC Den Bosch und TOP Oss. Das entscheidende Tor fiel kurz vor dem Ende, die paar Anwesenden haben richtig gefeiert.“
Eines der wenigen Länder, in denen im Pandemiesommer des Vorjahres Spiele mit Fans stattfanden, war Estland. Timo sah dort ein Spiel, war mit fünf Freunden vor Ort – und mit ihnen noch 50 andere „Hopper“ aus Deutschland. „Sowas spricht sich in der Szene herum.“
Heute vernetzt sich die Groundhopping-Szene mithilfe einer Smartphone-App
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Eine App erleichtert das „Hoppen“Eine Szene, die durch eine App vernetzt ist. Mussten „Hopper“ ihre Besuche früher mit Stift auf Papier festhalten, können sie sich heute über die Anwendung „Futbology“ auf ihrem Smartphone während einer Partie einloggen. Das Match, das man besucht, wird automatisch dem eigenen Portfolio zugeordnet. User können Freunde hinzufügen – und sie bekommen angezeigt, welche Spiele in der Nähe stattfinden.
Während der Hochzeiten in der Pandemie hat auch Canizales in der App nachgeschaut, ob nicht doch irgendwo eine Partie stattfindet, die er besuchen kann. „Keine Chance. Für mich brach damit eine Konstante weg.“ Was tun in der freien Zeit? Er plante die nächsten Touren und fand mithilfe von Groundhoppingmagazinen den Weg in die Ferne. Nach dem Ende des Lockdowns konnte er „endlich wieder richtig Gas geben“.
Bald will Canizales ein zweites Mal nach Südamerika reisen, Schottland und asiatische Länder stehen ebenfalls auf seiner Liste. Er fährt weiter dem Fußball hinterher, auf der Jagd nach dem nächsten Ground, dem nächsten Länderpunkt – wie auch Timo und all die anderen Groundhopper.