Essen. Am 12. Mai vor 100 Jahren kam Joseph Beuys zur Welt: ein großer Legenden-Erfinder – und der wirkmächtigste Erneuerer der Kunst im 20. Jahrhundert.
An ihn kam nicht einmal der posensüchtige Salvador Dalí heran, auch der so souverän offenherzige Picasso und erst recht der scheue Andy Warhol als sein zeitgenössischer Antipode nicht: Wie kein zweiter Künstler des 20. Jahrhunderts hat Joseph Beuys es verstanden, in den Medien präsent zu sein, sie einzuspannen für seine Zwecke. Sobald er wusste, dass eine Kamera im Raum ist, wurde er zu einem anderen Menschen. Wenn er ein Objektiv sah, war er sofort der Künstler in einer neuen Performance, der mit ernstem Blick redete und redete und redete. Der groß gewachsene Mann hatte eine schier magische Aura, und dass ihm in seinem oft assoziativen Redestrom manche Wörter, Bilder und Bezüge reichlich schief gerieten, tat seiner Wirksamkeit nicht den mindestens Abbruch. Er war ein Menschenfischer, konnte mit seinem in fast religiöse Dimensionen erweiterten Kunstbegriff Gläubige machen und Jünger.
Doch so gut und reich seine letzten beiden Lebensjahrzehnte dokumentiert sind, so groß sind die Unsicherheiten über seinen frühen Jahre im niederrheinischen Kleve. Selbst der Ort seiner Geburt am 12. Mai vor 100 Jahren gibt Rätsel auf – die Geburtsurkunde, in der sein Name noch niederländisch „Beuijs“ geschrieben ist, nennt den Dampfmühlenweg in Krefeld, ohne Hausnummer, etwa zwei Kilometer von der Wohnung der Familie am Alexanderplatz entfernt, weit weg vom Krankenhaus oder einer Hebamme, kurz vor Mitternacht. Beuys selbst erklärte häufiger (auch in seinem „Lebenslauf Werklauf“), er sei in Kleve geboren – aber das war ähnlich ernst gemeint wie sein Plädoyer im Jahr 1964, die Berliner Mauer „aus ästhetischen Gründen“ um fünf Zentimeter zu erhöhen.
Die „Tatarenlegende“ und die Rot-Grün-Schwäche
Andere Dauererzählungen von Beuys haben sich inzwischen als kreativer Umgang mit der Geschichte erwiesen, allen voran die „Tatarenlegende“, der zufolge Beuys als Stuka-Pilot im März 1944 auf der Krim abgeschossen worden sei, von umherziehenden Tataren aus dem Schnee geborgen und zur Gesundung tagelang in Fett und Filz eingewickelt worden. Die Künstler-Biografen Jörg Herold und HP Riegel haben dagegen herausgefunden, dass Beuys wegen seiner Rot-Grün-Schwäche (die ihm später auch als Autofahrer zu schaffen machte) nicht Pilot war, sondern Bordfunker und -schütze. Er wurde außerdem nicht hinter den feindlichen Linien abgeschossen, vielmehr geriet die Maschine in einer Unwetterwolke ins Trudeln und stürzte so ab, dass Beuys am nächsten Tag im Wehrmachts-Lazarett lag; geschneit hatte es den ganzen Winter kaum auf der Krim, erst zwei Wochen später lag eine dichte Decke – und Tataren zogen dort in dieser Zeit schon lange nicht mehr umher. Ähnlich verhält es sich mit der Legende, er sei als Schüler fast ein Jahr lang mit einem Zirkus umhergezogen.
Der Zweite Weltkrieg als „Bildungserlebnis“
Aber: Mit der Tatarengeschichte hatte Beuys eine Antwort auf die nervenden Frage, warum er Fett und Filz in seinen Werken verwende. Dabei ging es in erster Linie darum, die Kunst durch neue Materialien zu erneuern. Später wurde sie auch um Debatten, Baumpflanzungen, Zitronen oder Parteigründungen und Happenings erweitert. Überhaupt waren Beuys’ „Aktionen“ wie die Pflanzung von 7000 Eichen oder das Einschmelzen einer Zarenkrone (das ihm Ai Weiwei durch das Zerschmettern einer kostbaren Porzellanvase nachmachte) die eigentliche Kunstform dieses modernen Wanderpredigers der Kunst, das dokumentiert auch die aktuelle Ausstellung in der Kunstsammlung NRW.
Den Zweiten Weltkrieg hat Beuys, der sich 1941 nach dem Gymnasium freiwillig für zehn Jahre in der Wehrmacht verpflichtet hatte, einmal als „Bildungserlebnis“ bezeichnet. Und das nicht nur, weil er während seiner langen Ausbildung den späteren Tierfilmer Heinz Sielmann zum Vorgesetzten hatte oder in Weimar Zeit hatte, das Goethe- und Schiller-Archiv zu besuchen und sich mit Nietzsche zu befassen. Er war lange in Italien stationiert, in Kroatien, lernte Prag kennen, geriet aber dann doch in den letzten Kriegsmonaten zunehmend in Gefechtshandlungen, in Russland und dann am heimischen Niederrhein.
Matarés Meisterschüler und die van der Grintens
Die Kriegstraumata sollten ihn Mitte der 50er-Jahre, nach seinem Studium an der Düsseldorfer Akademie als geschätzter Meisterschüler von Ewald Mataré, in eine tiefe Depression fallen lassen, von der der sich in Kranenburg auf dem Bauernhof seiner ersten Sammler, der Brüder van der Grinten, erholen sollte.
Als Beuys 1961 einstimmig von seinen Kollegen zum Professor für monumentale Bildhauerei an der Düsseldorfer Akademie berufen wird, ist es dort vorbei mit der beschaulichen Ruhe – Beuys nimmt an Happenings der gerade aufkommenden Fluxus-Bewegung teil, tritt mit Pferd und Klavier auf oder lässt sich Anfang der 70er-Jahre, als Künstler sich wegen des Vietnamkriegs weigerten, die USA zu betreten, in einen Teppich eingerollt vom Flughafen zur Galerie René Block fahren und tagelang mit einem Kojoten einsperren unter dem Titel „I like America and America likes me“.
Der Rauswurf aus der Akademie mit Polizeieinsatz durch Johannes Rau
Vor allem aber öffnet er die Kunstakademie allen, die dort studieren wollen, lässt den Numerus Clausus nicht mehr gelten, was ihm 1972 dann den Rauswurf per Polizeieinsatz durch den jungen Wissenschaftsminister Rau einbringt. Als Lehrer war Beuys glasklar und sagte offen, wenn Kunst misslungen war. Es musst ja auch nicht jeder Akademie-Absolvent in den Kunstbetrieb einsteigen – Beuys lehrte, dass jeder Mensch ein Künstler sei, wenn er sich nur bei der Arbeit an der „Sozialen Plastik“ Gesellschaft kreativ einbringe. Mit einem „Begriff des Plastischen, der im Sprechen und Denken beginnt, der im Sprechen erlernt Begriffe zu bilden, die das Fühlen und Wollen in die Form bringen können.“ Ihm war wichtig, das Rationale, Technologisch-Wissenschaftliche der Welt um eine Menschlich-Geistige Dimension zu erweitern – und er hat noch vor allen politischen Ökologen klargemacht, das auf dieser Welt tendenziell alles mit allem zusammenhängt, dass wir in Prozessen denken und immer wieder Gleichgewichte finden müssen.
Listenplatz für Antje Vollmer, Schüler wie Immendorf und Anatol
Nur konsequent, dass Beuys zu den Mitbegründern der Grünen gehörte – wenn er auch durch eine Verschwörung zwischen linken Bochumer und Bielefelder Parteigenossen um einen sicheren Listenplatz für die Bundestagswahl gebracht wurde, auf dem sich dann eine gewisse Antje Vollmer wiederfand.
Beuys hat viele Schüler zu Meistern ihres Faches werden lassen. Nicht nur Jörg Immendorff, Katharina Sieverding, Blinky Palermo, Imi Knoebel oder Felix Droese, sondern auch viele Lehrer, Galeristen, Manager. Und den jüngst verstorbenen Bildhauer Anatol Herzfeld, der Beuys 1973 in Düsseldorf mit einem Einbaum über den Rhein „heimholte“. Dass dieser Einbaum am Ende in Diensten eines Anglers auf dem Halterner Stausee allmählich zerbröselte und wieder Teil der Natur wurde, dürfte Beuys sehr gefallen haben.