Essen. „Heul doch nicht, du lebst ja noch“: In ihrem neuen Jugendbuch erzählt Kirsten Boie aus verschiedenen Positionen vom Ende des Zweiten Weltkriegs.
Der HJ-Führer kann niemanden mehr befehligen. Hermann muss nun seinen Vater zur Toilette tragen, denn ihm hat man im Krieg die Beine weggeschossen. In dem 14-Jährigen kocht die Wut: „Ist es nicht schlimm genug, dass die Stadt zerbombt ist, und dass der Vater keine Beine mehr hat? Und nun sollen sie auch noch schuld an allem sein, sogar feige Mörder?“
„Heul doch nicht, du lebst ja noch“ heißt der neue Roman von Kirsten Boie. Die beliebte Kinderbuchautorin veröffentlicht nicht nur unterhaltende Geschichten für Jungen und Mädchen – „Der kleine Ritter Trenk“, „Wir Kinder aus dem Möwenweg“ oder aktuell die Sommerby-Reihe. Der Hamburgerin ist es wichtig, sich schreibend den Tragödien der Menschheit zu nähern, damit selbst die Jüngsten nicht vergessen. Dieses Mal schreibt sie über das Leben in Trümmern, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging – aber damit nicht alles zu Ende war.
Erzählt aus der Perspektive von mehreren, ganz unterschiedlichen jungen Menschen
Wie bei ihrem Buch „Dunkelnacht“ über die vielen Morde kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges in dem Ort Penzberg in Bayern erzählt sie erneut aus der Perspektive von mehreren, ganz unterschiedlichen jungen Menschen. Da ist Traute, die nicht weiß, wie der Tag in Hamburg rumgehen soll, ohne Schule, ohne Freundinnen, die durch die Kinderlandverschickung in alle Winde zerstreut sind. Dafür muss sie sich mit einer fremden Familie das Zuhause teilen. Sie sprechen so anders, diese Menschen, die aus dem Osten geflohen sind.
Und da ist der 14-jährige Jakob, der in seinem Versteck zwischen den Trümmern noch gar nicht erfahren hat, dass der Krieg endlich vorbei ist. Und er damit nicht mehr in Gefahr ist – oder doch? Seine Mutter, eine Jüdin, wurde nach Theresienstadt deportiert.
„Was so lange Wahrheit war, wird nicht auf einen Schlag Lüge“
Und da wäre Hermann. „In Hermanns Kopf ist der Krieg noch nicht wirklich vorbei“, schreibt Kirsten Boie. „Was so lange Wahrheit war, wird nicht auf einen Schlag Lüge. Wer die Engländer als Feind gekannt hat, sechs Jahre lang, für den sind sie auch immer noch der Feind; und wer genau wusste, dass Juden Untermenschen sind, jahrelang, weil er es täglich in der Schule so gehört hat, in Filmen gesehen und in der Zeitung gelesen: Wie soll der auf einmal anders denken können?“
Kirsten Boies Roman „Dunkelnacht“ hat schockiert. Dieses Mal schlägt die Autorin leisere Töne an, die stark nachhallen. Sie macht deutlich, dass am Ende des Zweiten Weltkrieges nicht nur jüdische Kinder Verlierer waren. Auch andere Jungen und Mädchen haben gelitten – unter dem Krieg der Eltern.
Einzig richtig: der Weg des Gesprächs
Ein Jugendbuch über das Ende des Krieges, das alle Kinder in den Blick nimmt, ist etwas Besonderes. Es erscheint genau richtig – in einer Zeit, in der sich wieder mehr Menschen von rechten Gedanken leiten lassen, in der Bilder von Flüchtlingen an der hochgezogenen belarussisch-polnischen Grenze verstören, in der russische Panzer unweit der Ukraine verängstigen. Wenn Menschen den Weg des Gesprächs verlassen, gibt es am Ende keine Gewinner – das können Jungen und Mädchen nicht früh genug lernen. Und der Satz, der Titel des Buchs: „Heul doch nicht, du lebst ja noch“, tröstet selbst nach einem überstandenen Krieg nicht, das macht Kirsten Boie ebenfalls deutlich. Denn was für ein Leben ist das noch?
Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch, Oetinger, 176 S., 14 €, ab 14 Jahren