Essen. Kinder, die nicht zuhören, und Eltern, die genervt den Satz zum x-ten Mal wiederholen? Wie digitale Medien für Abwechslung beim Vorlesen sorgen.

Gemeinsam ein Buch aussuchen, sich mit einer Decke auf der Couch einkuscheln und Geschichten vorlesen – „dass Vorlesen wichtig ist, liegt in aller Munde“, sagt Lukas Heymann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen. Das fördere nicht nur die sprachliche Entwicklung, die Kreativität und die Empathiefähigkeit, sondern stärke auch die Bindung zwischen Eltern und Kind.

Doch viele Mütter und Väter, so das Ergebnis der aktuellen Studie der Stiftung Lesen, haben keinen Spaß am Vorlesen. Sie sind genervt, weil ihre Kinder sie ständig unterbrechen oder weil sie meinen, beim Vorlesen ihre Stimme verstellen zu müssen.

Apps wecken die Lust am Lesen

„Wenn Eltern keinen Spaß am Vorlesen haben, überträgt sich das selbstverständlich auf das Kind“, sagt Kathrin Schimpke, Leiterin der Kinderbücherei in Bochum. Beim Vorlesen gehe es jedoch darum, gemeinsam Zeit zu verbringen, also Bücher zu finden, die Kindern und Eltern gleichermaßen gefallen, erklärt die 55-Jährige. Aber auch digitale Angebote könnten dafür sorgen, dass Eltern und Kinder mehr Freude am gemeinsamen Lesen haben.

So gibt es eine Reihe von Apps, die Eltern gemeinsam mit ihren Kindern auf dem Smartphone oder Tablet nutzen können. Die animierte Bilderbuch-App „Im Gras“ (für iOS und Android, 2,99 Euro) ist etwa für Kinder ab zwei Jahren geeignet. Bei dem Spaziergang durch die Natur lernen die Kinder spielerisch die Flora und Fauna der Blumenwiese kennen, können eine Maus vor der Katze retten und eine Grille singen hören. Apps mit interaktiven Elementen, die an klassische Wimmelbücher erinnern, oder Vorlese-Apps wie „Milli und ihre Freunde“ (für iOS, 2,99 Euro) mit Geschichten zum Vorlesen lassen oder selbst erzählen sind ebenfalls im Appstore zu finden.

Mit dem Tiptoi-Stift die Bücher zum Leben erwecken

Mit Lesestiften wie dem Tiptoi-Stift von Ravensburger können Kinder außerdem die Menschen und Tiere in ihren Büchern zum Leben erwecken. Tippt man mit dem Stift auf einen Text im Buch, wird die entsprechende Stelle vorgelesen. Auch Lieder, Tiergeräusche oder die Sirenen eines Polizeiautos können so abgespielt werden.

„Digitale Medien können dabei helfen, dass ein Gespräch zwischen Eltern und Kindern entsteht“, sagt die Leiterin der Bochumer Kinderbibliothek. Interaktive Geschichten sowie kleine Spiele oder Fragen würden für Abwechslung sorgen und Eltern und Kinder dazu anregen, sich intensiver mit dem Gelesenen zu beschäftigen. „Vorlesen ist nicht nur Ablesen“, sagt Kathrin Schimpke. Es seien Fragen wie „Hast du das auch schon einmal erlebt?“ oder „Was denkst du, wie es jetzt weitergeht?“, die das Vorlesen lebendig machten. Genauso könnten Eltern von einem Urlaub erzählen, während sie mit ihren Kindern in einem Sachbilderbuch zum Thema Flugzeuge stöbern. Apps helfen Müttern und Vätern dabei auf die Sprünge.

Mit Hilfe von Bilderbuch- und Vorlese-Apps werden auch andere Hürden überwunden. „6,2 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben“, sagt Lukas Heymann von der Stiftung Lesen. Geschichten in Vorlese-Apps seien oft in mehreren Sprachen verfügbar und könnten sowohl in der jeweiligen Muttersprache als auch auf Deutsch oder Englisch abgespielt und vorgelesen werden.

„Das ist Medienkompetenz“

Dass Vorlesen wichtig ist, zeigt sich spätestens in der Grundschule: Kinder, denen schon früh regelmäßig vorgelesen wurde, haben in der Regel weniger Schwierigkeiten beim Lesenlernen, sagt Harald Heuer vom Bundesverband Mentor. Als Leselernhelfer betreut er Grundschüler, die sich mit dem Lesen schwertun. In einer Eins-zu-eins-Betreuung lesen Mentor und Kind gemeinsam in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, aber auch auf dem Tablet. „Digitale Medien sind immer nur eine Ergänzung zum Buch“, sagt Heuer – „aber eine sehr gute!“

So sei das Tablet eine gute Möglichkeit, um Kindern zu zeigen, dass Lesen überall und jederzeit im Alltag wichtig ist. Wenn ein Schüler etwa ein Wort in einer Geschichte nicht versteht, könne er gleich das Tablet nutzen, um eben dieses Wort nachzuschlagen. Dafür gebe es geeignete Kindersuchmaschinen. „Das ist Medienkompetenz“, betont Harald Heuer.

Kinder vor dem Tablet parken?

Außerdem gebe es Apps, die Kinder beim Lesenlernen unterstützen, etwa indem die Wörter in Silben getrennt werden, es Erläuterungen zur Grammatik gibt oder spielerisch abgefragt wird, ob das Gelesene auch verstanden wurde. Die interaktive Geschichte „Die große Wörterfabrik“ (für iOS und Android, 2,99 Euro) hilft Kindern zum Beispiel, ihren Wortschatz zu erweitern. Wichtig sei jedoch, dass Kinder beim Lesen immer von einem Erwachsenen begleitet werden, sagt Heuer. Das Kind mit dem Tablet auf die Couch zu setzen und zu sagen „Lies doch noch ein bisschen“, das funktioniere nicht.

Das bestätigt auch Lukas Heymann von der Stiftung Lesen. Die Verlockung, das Kind vor dem Tablet zu parken und nebenbei den Haushalt zu schmeißen oder E-Mails zu beantworten sei vor allem zu Corona-Zeiten groß, weiß der zweifache Vater. Doch gerade kleine Kinder sollten nicht zu lang vor dem Bildschirm sitzen – laut der Weltgesundheitsorganisation maximal eine Stunde. „Fahrrad fahren, malen, basteln, mit Bauklötzen spielen, puzzeln – es gibt noch unzählige andere Beschäftigungsmöglichkeiten für Kinder“, so Heymann.