Duisburg. Bisher verfestigt die Digitalisierung alte Ungleichheiten. Eine Forschergruppe erklärt, wie Männer und Frauen von dem Wandel profitieren.
Sie wollte sich einfach nur im Umkleideraum des Fitnessstudios umziehen. Aber das elektronische Zugangssystem verwehrte Dr. Lou Selby vor rund fünf Jahren den Weg in die Frauenumkleide. Was war geschehen? Sie hatte im Anmeldeformular des Studios in Cambridge ihren Doktortitel angegeben – und den sortierte das System automatisch als männlich ein. Die Tür blieb der Frau verschlossen.
„Unser Leben ist digitaler geworden“, sagte erst kürzlich Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrem Video-Podcast und rang damit der Corona-Krise etwas Positives ab. Sie zählte auf: Digitalunterricht in Schulen, virtuelle Hörsäle an den Unis, Videokonferenzen im Homeoffice. Und dann kündigte sie die „Initiative digitale Bildung“ an – alle sollen erreicht werden, unabhängig vom Alter oder vom Wissen. Wird das so sein? Ist die Digitalisierung eine Chance für mehr Gerechtigkeit – auch zwischen Mann und Frau?
Frauen müssen Mitentwickler neuer Technologien sein
„Digitalisierung an sich ändert nichts an bestehenden Machtverhältnissen, sie kann sie sogar verstärken“, betont Arbeitssoziologin Caroline Richter. „Frauen müssen als Mitentwickler dabei sein, ihre Interessen, ihre Ansprüche, ihre Bedürfnisse formulieren. Sie müssen Gehör finden.“ Dann könne Digitalisierung Chancen für mehr Gleichberechtigung bieten.
Die 42-Jährige ist Mitglied einer bundesweiten Sachverständigenkommission, die nun eine umfassende Arbeit zur geschlechtergerechten Digitalisierung an Bundesfamilienministerin Franziska Giffey übergeben hat: Dieses Gutachten für den sogenannten „Dritten Gleichstellungsbericht“ soll Anstöße für die Bundesregierung geben.
In der Digitalbranche, also in den Firmen, die die Technik herstellen oder auch Zugangssysteme wie Gesichtserkennung entwickeln, ist die Lücke zwischen den Gehältern von Männern und Frauen nicht ganz so groß wie in anderen Wirtschaftsbereichen. Aber Frauen sind dort eine Minderheit – und haben weniger Einfluss auf die Entwicklung.
Eine Gesundheits-App, die nicht die Frauen-Gesundheit berücksichtigt
Caroline Richter vom Institut Arbeit und Qualifikation an der Uni Duisburg-Essen nennt ein Beispiel, das die Folgen erahnen lässt: „Es gibt eine Gesundheits-App, in der man alles Mögliche eintragen kann: Essverhalten, Schlafgewohnheiten, Sport und so weiter. Aber was lange nicht berücksichtigt war: der Menstruationszyklus, der immerhin rund die Hälfte der Menschheit betrifft. Er galt schlicht nicht als Teil der Gesundheit“, kritisiert Caroline Richter. „Wären Frauen in solch einem Entwicklungsprozess involviert gewesen, wäre ihnen diese Leerstelle sicher aufgefallen.“
Ein besserer Zugang in diese Branche sei daher für Frauen wichtig. Schon heute gibt es Mädchenklassen, Girls Days und andere Projekte, mit denen Mädchen für MINT-Fächer gewonnen werden sollen. Aber den großen Wandel hat man damit bisher nicht angestoßen. „Man muss viel früher ansetzen“, so die Soziologin. „In der Schule ist es zu spät.“
Schon früh leben Kinder nach Vorurteilen
Die Bilder von dem, was angeblich eine Frau kann und mag und was ein Mann, die verfestigten sich bereits in ganz kleinen Köpfen. Richter nennt ein persönliches Beispiel: Als sie mit ihrer Tochter in einer Pekip-Gruppe war – also beim Prager-Eltern-Kind-Programm, mit dem Kinder im ersten Lebensjahr gefördert werden – gab ihr die Mutter eines Jungen einen Greifball, den sie online bestellt hatte, ohne die Farbe wählen zu können. Ob Caroline Richter den nicht für ihre Tochter haben wolle, Pink sei schließlich nichts für Jungs.
Es ist nur die Farbe eines Spielzeugs. Aber da werden bereits Unterschiede gemacht, so Richter. Das geht weiter bei Meerjungfrauen-Pullis in der Mädchenabteilung und Shirts mit Autos in der für Jungen. „In meiner Kindheit gab es noch eine Kinderabteilung“, so Richter. Sie sagt zu den Geschlechterstereotypen: „Wir sind nicht weitergekommen. Im Gegenteil, es gibt sogar Rückschritte.“ Dann ist es nicht mehr weit bis zur Meinung, dass Jungen angeblich mehr Talent oder Interesse für Technik und Mathe haben als Mädchen.
Wenn Frauen in der IT-Branche durchstarten
Haben Frauen es trotzdem geschafft, sich über solche Vorurteile hinwegzusetzen und arbeiten etwa als IT-Spezialistinnen, fühlen sie sich oft stark unter Druck gesetzt, wie dem Bericht zufolge Studien zeigen. Häufiger als in anderen Branchen erlebten sie geschlechtsbezogene Nachteile, sie erführen zum Beispiel weniger Anerkennung für ihre Kompetenzen.
Homeoffice hat auch in anderen Branchen während der Corona-Krise gezeigt, wie man Beruf und Familie durch Digitalisierung vereinbaren kann. Aber förderlich für die Karriere von Frauen ist Homeoffice bisher nicht, so Richter. Häufig würden sie im Haus Aufgaben übernehmen, die wenig planbar oder mitten am Tag erfüllt werden müssen: Mittagessen kochen, krankes Kind pflegen, beim Homeschooling helfen. Während Männer eher am Wochenende den Rasen mähen, reparieren oder Wasserkästen tragen. Sie sind beim digitalen Mittagstisch dabei – und bleiben für Führungskräfte sichtbar. „Homeoffice ist eigentlich eine wunderbare Gelegenheit, um vieles besser zu machen. Aber das ist kein Selbstläufer. Zurzeit zementiert Homeoffice eher das, was wir schon vorher kannten.“
Mit der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft steigt auch die Gefahr der Cyberbelästigung, indem über Mails oder Messenger-Dienste sexualisierte Inhalte verschickt werden. Zudem gibt es Software, mit denen Menschen beobachtet werden können. Die Folge: Cyberstalking. Um digitale Gewalt zu verhindern, kann man Opferprogramme starten, Betroffene auffordern, sich zu wehren. Doch aus Sicht der Forschergruppe ist das zu kurz gedacht: „Wir plädieren dafür, dass bestimmte Technologien und Programme bestimmte Funktionen per se gar nicht haben dürfen.“
Nur weil Technik etwas kann, ist sie deswegen nicht automatisch gut
So gibt es Software, bei denen ein Porträt in ein Bild eingefügt werden kann. Ein Spaß, wenn man sich in Prinzessin Leia oder Luke Skywalker verwandelt. Anders sieht das bei Porno-Apps aus, so Richter, bei denen das Porträt eines Menschen in einen Film mit pornografischen Darstellungen integriert wird: „Es sieht genauso aus, als wäre es diese Person.“ Weil die App so programmiert wurde, weil sie nicht unterscheide zwischen richtig und falsch. Hier sei nicht allein das Individuum gefragt, sich zu wehren. „Bei aller Vorsicht gegenüber Verboten: Bestimmte Einstellungen dürfen gar nicht erst aktivierbar sein.“
Damit Digitalisierung für alle Menschen unabhängig vom Geschlecht gerecht ist, muss sie entsprechend gestaltet werden, so Richter. Wie wirkt sie sich auf die Menschen aus? Werden ungerechte Machtverhältnisse sichtbar – und geändert? Es sei wichtig, dass man bei aller Begeisterung für Technologie es nicht hinnehme, wenn ein Algorithmus stereotypes Denken verfestigt – wie bei Dr. Lou Selby im Fitnessstudio. Die Betreiber haben sich übrigens entschuldigt: „Eine Störung im System.“
Richter betont, dass es nicht um DIE Frauen und DIE Männer ginge. Geschlechtergerechtigkeit entstehe, wenn man vereinfachende Einordnungen hinter sich lasse. Es ginge bei Digitalisierung um Menschen, was sie tun und was sie brauchen. „Auch viele Männer setzt es unter Druck, immer die Rolle des Versorgers ausfüllen zu müssen, der gut und gerne mit IT umgeht.“
Download des Gutachtens unter: dritter-gleichstellungsbericht.de