Washington. Patti Smith hat als Rock- und Punk-Ikone alles überlebt: Drogen, Schicksalsschläge und den Rückzug ins Hausfrauendasein – eine Würdigung zum 75.
Andy Warhol hatte rückblickend vollkommen recht. Patti Smith besitzt wirklich das „Stehvermögen eines Panzers”. Sängerin, Frontfrau, Taufpatin des Punk, Mystikerin, Dichterin, Literatin, Malerin, Fotografin, Aktivistin, Mutter, Großmutter, Überlebende des Drogenwahns der 70er-Jahre, Trauer-Bewältigerin von hohen Gnaden – es gibt in der Welt der Kultur keine zweite „elder stateswoman”, die seit einem halben Jahrhundert so authentisch, stilbildend und multi-erfolgreich auf so vielen Hochzeiten getanzt hat. Und immer noch tanzt. Heute, am 30. Dezember, wird die in Ehren ergraute, putzmuntere Ausnahme-Künstlerin 75 Jahre alt.
Dass damit nicht unbedingt zu rechnen war, konnte das deutsche Publikum zum ersten Mal vor 42 Jahren erahnen. April 1979. Grugahalle Essen. Der legendäre WDR-„Rockpalast”. Die Smith singt unter anderem „Gloria” mit der Zeile: „Jesus starb für irgendjemandes Sünden, aber nicht für meine.” Eine Wahnsinns-Show. Sprechgesang und sägende Gitarren lassen Hunderttausende über Nacht zu Smithianern werden.
Alan Bangs muss kapitulieren, Patti Smith ist zugedröhnt bis in die Haarspitzen
Danach stellt sich die zickig-überdrehte Performerin dem Moderator zum Interview. Alan Bangs muss kapitulieren. Patti Smith redet wirres Zeug mit dem Monitor. Die Frau mit der Modigliani-Figur, die mit 20 zum ersten Mal Mutter wird und ihr Kind zur Adoption freigibt, ist vollgedröhnt mit harten Drogen.
Aber: Sie hat anders als Jimi Hendrix und Janis Joplin überlebt. Lange bevor sich Prince „Sklave” (der Entertainment-Industrie) auf die Backen pinselte, demonstrierte Smith auf dem Zenit ihres musikalischen Schaffens, wie frau Unabhängigkeit lebt. Nach den bis heute in Endlosschleife gespielten Hit-Singles „Because the Night”, ein Nachlass von Bruce Springsteen, und „Frederick”, nach den Alben „Horses”, „Easter” und „Wave” verabschiedete sie sich mit Ehemann Fred „Sonic” Smith, Kopf der Punk-Pioniere von „MC 5”, 1979 aus dem Scheinwerferlicht. Und gründete in einem Vorort von Detroit quasi in Umkehrung ihres Hits „Rock-and-Roll Nigger” (Außerhalb der Gesellschaft/Da will ich sein) eine stinknormale Familie. Nicht mehr die berühmt-berechtigte Künstler-Bleibe im „Chelsea Hotel” und der abgeranzte Kult-Klub CBGB in New York diktieren fortan ihren Alltag. Sondern die Windeln von Jesse und Jackson. Ihre „Hausfrauenjahre”, wie Smith die Zeit später nennt, werden nur 1988 kurz des Geldes wegen für das Album „Dream Of Life” unterbrochen. Ein Flop.
Die Zeit der Schicksalsschläge – Mapplethorpe, Fred „Sonic“ Smith, Bruder Todd
Dann reihenweise Schicksalsschläge. 1989 rafft Aids Robert Mapplethorpe dahin. Ihre erste große Liebe („ein Junge mit einer Masse dunkler Locken”) trägt als Fotograf mit seiner visuellen Kraft dazu bei, dass Smith, die Lyrikerin, die nebenbei Musik macht, 1975 der Durchbruch gelingt. Ende 1994 erliegt Ehemann Fred mit nur 45 Jahren einem Herzinfarkt. Vier Wochen später ereilt Patti Smiths Bruder Todd ein tödlicher Schlaganfall.
Andere wären in dem Tal der Trauer ertrunken. Smith, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Chicago zur Welt gekommen, Vater: Fabrikarbeiter, Mutter Zeugin Jehovas, ist aus anderem Holz. Mit „Gone Again” legt sie Mitte der 90er ein düster-fröhliches Requiem hin, das als universale Überlebens-Melodie funktioniert und ihr Comeback begründet. Ihr Tenor: Es lohnt sich, durchzuhalten. Mit „Just Kids” und „M Train” gelingen ihre preisgekrönte Bücher. Auch wegen Sätzen wie diesen, der auf Mapplethorpe gemünzt war: „…als du auf meiner Schulter eingeschlafen bist, bin ich auch weggedöst. Aber bevor ich das tat, als ich mir all deine Sachen und deine Arbeiten ansah und die Jahre der Arbeit in meinem Kopf durchging, fiel mir auf, dass von all deinen Kunstwerken du immer noch dein schönstes bist. Das schönste Werk von allen. Patti.”
Bob Dylan folgte ihr hinter die Bühne, um mit ihr über Poesie zu reden
Smith abgeklärte Sentimentalität führt dazu, dass dass sie 2011 bei einer Preisverleihung in Stockholm von König Carl XVI. Gustaf als eine „Rimbaud mit Marshall-Verstärkern” gepriesen wird; eine Anspielung auf den von ihr sehr geschätzten französischen Poeten und in der Rock-Szene benutzte Lärmverbreitungstechnik. Apropos Schweden: Als Bob Dylan 2016 der Verleihung des Literaturnobelpreises in Stockholm aus dylanesken Gründen fernbleibt, vertrat ihn eine künstlerisch ebenbürtige Freundin, der er einst in New York hinter die Bühne gefolgt war, um über Poesie zu reden. Bei „A Hard Rain’s A-Gonna Fall” kam die Frau, weil total nervös, sympathisch ins Straucheln. Es war Patti Smith.