Moers. Als „Internationales New Jazz Festival“ gegründet, feiert das heutige „Moers Festival“ jetzt seinen 50. Geburtstag – sogar mit Live-Konzerten.

Als Burkhard Hennen 1972 in Moers sein „Internationales New Jazz Festival“ gründete, da hätte niemand gedacht, dass dieses Pfingstereignis einmal den 50. Geburtstag erleben würde. Warum dies heuer, wenn auch unter speziellen Bedingungen, dennoch der Fall ist, zeigt ein Rückblick auf die Festivalgeschichte. Geprägt ist sie von diversen Aspekten, die den legendären Ruf von Moers formten. Die gesellschaftliche Situation in den Anfangsjahren war ideal, weil man sich nach neuen Freiheiten sehnte. Dass es für New Jazz, den man heute als „Improvised Music“ bezeichnen würde, damals noch kein eigenes Festival gab, kam Hennen dabei zugute. Ebenso die Bekanntschaft mit dem Saxofonisten Peter Brötzmann, der in den ersten Jahren neben heimischen Größen wie Albert Mangelsdorff auch internationale Stars, etwa das polnische Tomasz Stanko Quintet, über Pfingsten an den Niederrhein lockte.

Die waren ein Garant für Jazz-Fans, im Moerser Schlosshof die angesagtesten Bands der Avantgarde-Szene erleben zu können. Wobei Woodstock-ähnliche Bedingungen die Legendenbildung förderten, weil gemeinsame Erlebnisse im Regen die Besucher zusammenschweißten, was sich rasch in halb Europa herumsprach. Moers erreichte einen Jazz-Ruf wie Donnerhall, selbst hinterm Eisernen Vorhang kannten Fans die Stadt am Niederrhein, die mal als größte Kleinstadt Deutschlands galt, mal als kleinste Großstadt.

Woodstock-ähnliche Bedingungen

Kein Wunder jedenfalls, dass der Schlosshof rasch zu eng für das Festival wurde. Weshalb es Hennen 1975 in den Freizeitpark verlegte, wo acht Jahre lang unter freiem Himmel so ziemlich jeder auftrat, der Rang und Namen hatte – von Anthony Braxton und Lester Bowie mit dem „Art Ensemble of Chicago“ bis hin zu – man staune – Art Blakey.

Außerdem bewies Hennen zunehmend eigenständig einen guten Riecher für neue Entwicklungen. Weshalb es für Musiker in Chicago, New York oder Tokio bald zum guten Ton gehörte, am Niederrhein aufzutreten. Mit der Folge, dass für internationale Jazzjournalisten Moers ein Pflichttermin wurde, die zur Legendenbildung weiter beitrugen. Wichtig für die Erfolgsgeschichte wurde auch, dass sich rund um das Festival eine alternative Gegenkultur ausbreitete. Mit jeder Menge Campern und einem bunten Angebot an Ethno-Schmuck und Hippie-Kleidung sowie exotischem Fast-Food. Weshalb die Moerser es auch lange chic fanden, ihren Pfingstspaziergang zum Hippie-Gucken zu nutzen.

Zu viel Lärm, zu viel Müll, zu viel Hasch

Gitarrist Fred Frith hält mit 22 Gastspielen den Moers-Rekord.
Gitarrist Fred Frith hält mit 22 Gastspielen den Moers-Rekord. © FFS | Olaf Fuhrmann

Die typische Moers-Atmosphäre wurde jedoch zur Belastung für das Festival. Zu viel Lärm, zu viel Müll, zu viel Hasch und freizügiges Verhalten der zahllosen Freaks strapazierten 1982 erst die rheinische Toleranz und 20 Jahre später, da zelteten schon 35.000 Leute im Park, auch die Stadtkasse. 2004 war mit dem Umzug in die Festivalhalle am Solimare dann Schluss mit dem anarchische Drumherum, das seither nur noch im gesitteten Kleinformat existiert – samt bewachtem Camping für nostalgische Altfreaks.

Es war nicht der einzige Wandel in der Moers-Historie. Denn nach einen Intermezzo in der abgelegenen Eissporthalle erweiterte Hennen im größten Zirkuszelt Europas sein Angebot zunehmend um Soul, Funk, Ethno und sogar Pop – seit 1994 unter dem Namen „Moers Festival“. Was die Puristen ärgerte, nahmen die meisten Besucher, die einst als überaus sensibel gegenüber Mißtönen galten, verblüffend kritiklos hin. Woran sich übrigens bis heute nichts geändert hat, anything goes. Immerhin generierte Hennen damit bis zu 25.000 Zuhörer, doch der Erfolg hatte seinen Preis. Denn zunehmend heftiger ausgetragene Querelen um Geld und Einfluss auf die Programmgestaltung führten 2005 dazu, dass Burkhard Hennen nach 34 Jahren endgültig entnervt das Handtuch warf.

„Improviser in Residence“ steigerte die Akzeptanz der Bürgerschaft

Mit Reiner Michalke kam ein neuer Macher, der das Festivalprogrammatisch erneuerte und das Publikum spürbar verjüngte. Gleichzeitig gelang es ihm, Moers gegenüber einst undenkbarer Konkurrenz (vor 30 Jahren hätte niemand in Europa gewagt, über Pfingsten eine Alternative anzubieten) wie dem zeitgleich im oberösterreichischen Diersbach stattfindenden „INNtöne Festival“ im internationalen Bewusstsein neu zu positionieren und mit seinen spannenden Konzepten auch wichtige Jazzkritiker zurück an den Niederrhein zu locken.

2020 gab es ausschließlich Streams aus der Festivalhalle, das Bambi symbolisierte das fehlende Publikum.
2020 gab es ausschließlich Streams aus der Festivalhalle, das Bambi symbolisierte das fehlende Publikum. © Moers Festival | Andre Symann

Dass er einen „Improviser in Residence“ jeweils für ein Jahr in der Stadt leben und musizieren ließ, steigerte außerdem die Akzeptanz der Bürgerschaft. Den 40. Geburtstag feierte er mit FreeJazz-Legende Ornette Coleman als unvergesslichem Höhepunkt noch im Zelt, um 2014 dann seinen Traum, die eigene Festivalhalle, einzuweihen. Umso größer war der Schock, als Reiner Michalke nach dem poetisch zwischen Jazz und Neuer Musik schillernden 45. Festival erklärte, wegen finanzieller Ungereimtheiten bei der Moers Kultur GmbH seinen bis 2020 laufenden Vertrag aufzulösen.

Es war klar die bedrohlichste Krise in der Geschichte des Festivals. Aus der es unter neuer Leitung von Tim Isfort wie der Phoenix aus der Asche erstand. Zunächst von Jazz-Veteranen skeptisch beäugt, gelangen ihm seit 2017 veritable Pfingstwunder. Denn der Bassist erweckte den Moers-Spirit alter Zeiten zu neuem Leben und brachte mitunzähligen, „moersify“ genannten Events das Festival in die Stadt, was begeistert angenommen wurde.

Über seinen Hang zu absurder Theatralik – so stellte er 2019 einen Panzer auf die Bühne – darf man geteilter Meinung sein, nicht aber über seine visionäre Gestaltungskraft. Denn wie er im ersten Lockdown das Moers Festival notgedrungen als reines Streaming-Event realisierte, war ein unglaublich starkes politisches Signal und auch künstlerisch ein großer Erfolg.