Dortmund. Er bleibt ein Streitbarer, aber ein Faszinosum sind die Auftritte des Dirigenten Teodor Currentzis immer. Jetzt war er in Dortmunds Konzerthaus.
Typisch Teodor Currentzis: Mehr als eine Stunde lang lässt der Dirigent sein Orchester „MusicAeterna“ im Stehen spielen, um Gustav Mahlers 5. Sinfonie die größtmögliche Freiheit und Unmittelbarkeit des Musizierens zu geben. Lediglich die Cellistinnen und Cellisten, die Harfenistin und der Tubist dürfen sitzen.
Das ideelle Fieber, das von dem gebürtigen Griechen ausgeht, heizt seine Interpretation mächtig auf. Im Konzerthaus Dortmund injiziert er Mahlers frenetischen Ausbrüchen einen Schuss Übererregung, die alle Facetten dieses kühnen Schwellenwerks unterschwellig durchzittert: seien es die trivialen, volkstümlichen, tänzerischen oder triumphalen.
Wieder Gast im Revier: Teodor Currentzis deutete Mahler in Dortmunds Konzerthaus
Das ist aufregend, zerrt aber auch an den Nerven. Zuweilen steht der musikalische Aktivismus der Erkundung seelischer Tiefen entgegen, wie sich vor allem im Kopfsatz mit seinem trostlosen Trauermarsch zeigt. Sein Bestreben, direkt und kompromisslos zu formulieren, macht Currentzis womöglich zum Exponenten einer von Facebook und TikTok geprägten Zeit. Auf das Uneigentliche in Mahlers Musik, auf ihren Als-ob-Charakter versteht er sich weniger.
Stets einem tänzerischen Gestus folgend, ist er gleichwohl ein Erzmusikant. Dem berühmten Adagietto erspart er durch einen schwebenden, wie vom ersten Frost berührten Streicherklang jeden Verdacht von Edelkitsch - und gönnt dem Publikum endlich einmal ein Durchatmen.
Der Aktivismus bei Currentzis durchdringt nicht immer alle Schichten der Komposition
Wo die Stärken dieses Hochbegabten wirklich liegen, zeigt zu Beginn das Stück „Anaphora“, das der von Currentzis intensiv geförderte Alexey Retinsky für „MusicAeterna“ komponierte. Mit jedem einzelnen seiner sensiblen Finger formt Currentzis hier Klangflächen, die wie ein lebendiger Organismus wachsen, atmen und oszillieren. Details tauchen aus den Fluten auf, wie man dies aus Claude Debussys „Versunkener Kathedrale“ kennt. Ein staunenswertes, ungemein sinnliches Erlebnis.