Gelsenkirchen. Gelsenkirchens Tanz-Direktor Giuseppe Spota lässt dem Glöckner von Notre Dame Röhren aus dem Körper wachsen - Jubel für „Notre Dame de Paris“.

Dieser Quasimodo hat keinen Buckel – deformiert ist er dennoch: Gelsenkirchens Dance- Company-Direktor Giuseppe Spota lässt dem Glöckner von Notre Dame silbrige, bewegliche Röhren wie Tentakel aus dem Körper wachsen, mit denen sich Quasimodo fast animalisch über die Bühne windet, schlängelt, quält. Ums Verschieden- und Ausgegrenzt-Sein geht es in der kraftvollen Choreografie „Notre Dame de Paris“, die vom Premierenpublikum im Großen Haus des Musiktheaters im Revier mit einhelligem Jubel gefeiert wurde.

Ein Abend großer magischer Bilder, dunkel und dramatisch, getragen von einer athletisch und energiegeladen tanzenden jungen Compagnie und nervös treibender Musik. Giuseppe Spotas Sprache ist modern und zeitgenössisch, getanzt wird barfuß. Die Neoklassik hat sich mit dem Weggang von Bridget Breiner endgültig verabschiedet. „Nicht Ballett – Tanz!“, hatte Spota angekündigt, „Tanz kann alles sein, vielleicht auch an Orten, wo Menschen sind, die keinen Zugang zum Theater haben.“ Seine vertanzte Sicht auf Victor Hugos „Glöckner von Notre Dame“ spürt Themen wie Diversität, Fremdsein, Einsamkeit und Religiosität nach. Nur vier literarische Figuren und wenige markante Motive wählt er für seine eineinviertelstündige, pausenlose Choreografie aus, um mit Mitteln des Handlungsballetts und des abstrakten Tanzes eine Geschichte zu erzählen, aber auch pure Emotionen und Stimmungen zu vermitteln.

Brecht Bovijn als Frollo, Pablo Navarro Munoz als Soldat Febo

Jede Figur kennzeichnet ein eigener Bewegungskanon. Da ist Frollo, der seltsame Priester, den Brecht Bovijn zu Beginn mit expressiven, wiederholungsreichen Bewegungen als Zweifelnden, sich selbst Kasteienden mit nacktem Oberkörper und schwarzem Hosenrock wie einen Derwisch in Trance tanzt. In Goldanzug und derben Stiefeln tritt der Soldat Febo wichtigtuerisch martialisch-zackig auf. Ihn tanzt Pablo Navarro Munoz vor allem im zarten Liebes-Duett mit Esmeralda berührend intensiv. Simone Donatis großartiger, geschmeidiger Quasimodo spürt mit seinen vielseitig beweglichen Röhrengliedmaßen, die sich wie eine Ziehharmonika dehnen und zusammenziehen lassen, einer am Fremdsein leidenden Kreatur nach. Nach monatelanger Pandemiepause spricht aus dieser Figur auch die von vielen Menschen erlittene Last der Einsamkeit.

Fixpunkt der drei männlichen Akteure ist Esmeralda, die Schöne und Starke, auf die sie alle ihre Sehnsucht richten und die am Ende den Außenseiter erhört, wenn sie sich von seinen Tentakeln umarmen lässt. Genevieve O’Keefe tanzt sie stark, leidenschaftlich, kraftvoll. Die vier kommentierenden Erzählerinnen, die Spota als „Speech Girls“ einbaut, hätte es zum Verständnis nicht gebraucht. Tänzerisch sind Konstantina Chatzistavrou, Marie-Loise Hertog, Emily Anne Nicolaou und Chiara Rontini top, wenn sie die Power Esmeraldas noch mal vervielfachen, wenn sie wie Glockenklöppel im Kirchturm schwingen.

Musik von Simone und Giulio Donati

Für seine „Notre Dame de Paris“ schuf Giuseppe Spota eine monumentale, düster-verschattete Bühne mit magischer Beleuchtung und mystischer Atmosphäre, die an eine weihrauchgeschwängerte mittelalterliche Kathedrale erinnert. Faszinierend vielfältig eingesetzt sind Requisiten wie Stühle, Teppiche oder Schaumstoffmatten.

Auch die Musik stammt aus eigenen Reihen. Das Komponistenduo Atmo mit Simone und Giulio Donati kreierte eine elektronische Sphärenmusik zwischen enervierend treibendem Rhythmus und nahezu cineastisch üppigen Klangwelten.

Weitere Vorstellung: 27. Juni. Informationen: www.musiktheater-im-revier.de