Essen. Eine Million Fotos aus 150 Jahren: Die Bilddatenbank des Ruhr Museums liefert eine umfassende Sicht auf Arbeit, Alltag und Strukturwandel.

An Ostern mal wieder einen Blick ins Familienalbum werfen? Ist ja blöd, wenn dieses Jahr der Besuch ausbleibt und man die Bilder auch schon in- und auswendig kennt. Wie wäre es denn, stattdessen mal ins Familienalbum unserer ganzen Region zu gucken? Das Ruhr Museum hätte da gerade knapp eine Million der feinsten Fotos aus den letzten 150 Jahren zur Auswahl, alle digital abrufbar über die Bilddatenbank Ruhr – nicht umsonst soll in Essen das „Bundesdeutsche Fotoinstitut“ entstehen. Wer bisher dachte, dass das Ruhrgebiet schon immer so aussah wie heute, wird eines Besseren belehrt.

Strahlend weiße Unterbuxe im Grau der Zechensiedlung: Ein typischer Anblick in Gelsenkirchen-Hassel im Jahr 1959, im Hintergrund das Fördergerüst der Zeche Bergmannsglück.
Strahlend weiße Unterbuxe im Grau der Zechensiedlung: Ein typischer Anblick in Gelsenkirchen-Hassel im Jahr 1959, im Hintergrund das Fördergerüst der Zeche Bergmannsglück. © fotoarchiv Ruhr Museum | Herribert Konopka

„Wir meinen ja immer, das Ruhrgebiet wäre träge und würde sich nicht verändern. Aber der Blick auf die Fotos zeigt ein ganz anderes Bild. Die Welt noch von vor 20 bis 30 Jahren hat mit der von heute nichts mehr zu tun“, stellt Theo Grütter fest, Direktor des Ruhr Museums auf Zeche Zollverein, das wie alle anderen derzeit geschlossen ist, aber virtuelle Einblicke eröffnet, die sich gewaschen haben.

Digitales Wiedersehen mit Romy Schneider, Pierre Brice und den Rolling Stones

Es ist eine wahre Wonne, sich durch die Jahre und Jahrzehnte zu klicken, durch Bergmannssiedlungen und Hochofenmaloche, durch rauschende Ballnächte und geschniegelte Pärchen beim Sonntagsausflug, durch Parteitage mit dem alten Adenauer und Fußballspiele mit Kickern wie Libuda und Kuzorra, die längst in die ewigen Torjägergründe der Bundesliga eingegangen sind. Was trieb Romy Schneider damals in der Tanzbar „San Francisco“ – und wer ist der ältere Herr, der ihr dreist den Arm um die Schulter legt? Was machten Lex Barker, Pierre Brice oder Louis Armstrong einst in der Essener Lichtburg. Was sang Patti Smith beim Rockpalast 1981 in der Grugahalle? Und erkennt man auf den Fotos von den Essener Songtagen 1968 vielleicht noch einen alten Krawallmacher wieder?

Der Wandel ist gewaltig: „Alle Klischees vom Ruhrgebiet werden auf der einen Seite bestätigt, weil man natürlich viel Kohle und Stahl sieht, aber auf der anderen Seite wird das immer wieder konterkariert, denn das Ruhrgebiet war nicht nur dreckig und arm, es war auch wohlhabend und reich. Die Arbeiter haben ja unheimlich viel Geld verdient. Es gab Wohlstand und Modernität, es gab Urbanität und Metropolität.“

Aus Hüttenwerken wurden Einkaufszentren

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Modeshootings über den Dächern von Essen, Feierlichkeiten bei den Krupps, glanzvolle Symphoniekonzerte unter Wilhelm Furtwängler im Saalbau, auch das war unser Revier. Und überall: Wandel, Wandel, Wandel, man schaue sich die alten Fotos der Oberhausener Gutehoffnungshütte an, in ihrer brachialen Industriegewalt – wo heute das Centro steht.

1958 eröffnete die Kruppsche Konsumanstalt in Essen an der Rüttenscheider Straße ihren ersten Selbstbedienungssupermarkt. Frau mit Einkaufswagen und zwei Kindern vor einem Regal mit abgepacktem Reis, Erbsen und Linsen.
1958 eröffnete die Kruppsche Konsumanstalt in Essen an der Rüttenscheider Straße ihren ersten Selbstbedienungssupermarkt. Frau mit Einkaufswagen und zwei Kindern vor einem Regal mit abgepacktem Reis, Erbsen und Linsen. © Fotoarchiv Ruhr museum | Marga Kingler

Und das Ruhrgebiet war natürlich auch ganz viel Alltag, oft allzu trivial und doch anrührend: „Das meistfotografierte Motiv ist Wäsche. Es gibt viele Tausend, wenn nicht gar Hunderttausende Fotos, auf denen Wäsche hängt. Im Ruhrgebiet, in diesem schwarzen Revier, musste ja permanent gewaschen werden“, sagt Theo Grütter. Es ist ein wahres Klischee, dass die weiße Wäsche nach dem Aufhängen wieder grau war. Und Wäsche bestimmte das Leben der Frauen der Bergleute: „Montag war Wäschetag, da haben die den ganzen Tag gewaschen – und über die Woche weiter. Erst die Waschmaschine ermöglichte es den Frauen, etwas anderes zu machen“, so Grütter. Und als damals die RAG die Wäsche übernahm, war das eine echte Befreiung für die Frauen im Kohlenpott.

Kindheit und Fußball im Ruhrgebiet

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Grütter könnte unendlich viele solcher Geschichten erzählen, er hat ja nicht erst eine Ausstellung zum Revier gestemmt. Gerade liefe noch „Mensch & Tier im Revier“, längst gelaufen sind Werkschauen zu Albert Renger-Patzsch, Josef Stoffels und Chargesheimer. „Im Juni soll ja – wenn alles gut geht – die Ausstellung ,Kindheit im Ruhrgebiet‘ mit 200 Fotos starten“, sagt Grütter. Auch eine Schau zum Ruhrgebietsfußball ist in der Mache, denn es gibt allein 50.000 bis 60.000 Fotos zur rundesten aller Lieblingsbeschäftigungen im Revier. Aber bis es so weit ist, kann man beim Stöbern in der Bilddatenbank des Ruhr Museums bestimmt noch tausende Treffer landen.

>>>Das liebste Ausstellungsstück: Der Bernhardiner von Bottrop-Ebel

Aus dem Projekt „Bottrop-Ebel 76“; Michael Wolf, Bottrop 1976.
Aus dem Projekt „Bottrop-Ebel 76“; Michael Wolf, Bottrop 1976. © Fotoarchiv Ruhr museum | Michael Wolf

„Im Moment mag ich am liebsten den Bernhardiner, der in Bottrop-Ebel im Fenster liegt wie einst Else Stratmann. Das ist ein Ruhrgebietsfoto pur und Leitmotiv unserer Ausstellung ,Mensch und Tier im Revier’“, sagt Theo Grütter. Das Foto stammt vom weltberühmten Fotografen Michael Wolf, der vor fast einem Jahr in Hongkong verstorben ist. Er hat 1976 seine Examensarbeit an der Folkwang-Schule über den Arbeiterstadtteil Bottrop-Ebel verfasst. Grütter: „Unser Fundus an historischen Bildern ist unendlich. Im nächsten Jahr werde ich wohl ein anderes Lieblingsbild haben.“

Virtuelle Rundgänge

Das „Zeitalter der Kohle“ war die größte Ausstellung, die das Ruhr Museum je gemacht hat. Sie wurde komplett virtuell verewigt und kann unter der Adresse zeitalterderkohle.de noch heute besichtigt werden.

Die aktuelle Ausstellung „Survivor“ über die Überlebenden des Holocausts wird derzeit in einem 360-Grad-Verfahren komplett digitalisiert. Ab 20. April soll sie onlinegehen. Nach Lockerung der Corona-Maßnahmen wird die Schau über den Sommer verlängert.

Bilddatenbank des Ruhr Museums: fotoarchiv-ruhrmuseum.de Tipp: Auf „Stöbern“ gehen und beim Betrachten „Lupe II“ wählen. Wer den Abzug eines Bildes haben möchte, kann ihn gegen Gebühr auf der Seite bestellen.