Essen.. Wir schreiben immer mehr am Computer. Finnland will die Schreibschrift an den Schulen sogar abschaffen. Das Ganze hat Folgen für unser Leben.
Die verzweifelt-sehnsüchtigen Briefe an Milena gehören zum Schönsten und Persönlichsten in der Literatur. Täglich schrieb Franz Kafka an die ferne Geliebte, zuweilen mehrmals am Tag, meist nachts, nach der Arbeit in der Unfallversicherung und den täglichen Kämpfen um den Fortgang seiner Dichtung.
„Auch ist es vielleicht nicht eigentlich Liebe, wenn ich sage, daß Du mir das Liebste bist; Liebe ist, daß Du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle“, schrieb er am 14. September 1920. Welcher Gedankenkosmos, welcher literarische Reichtum wurde gerettet, weil er seine Worte mit Feder und Tinte auf Papier schrieb!
Vieles blieb dadurch für die Nachwelt erhalten. Fast alle namhaften Schriftsteller haben leidenschaftlich Briefe geschrieben. Heute kommt das handschriftliche Verfassen von Texten aus der Mode. E-Mail, SMS, Twitter, Facebook ersetzen das Schreiben mit der Hand.
Womöglich hätte Kafka heute auch „gemailt“, unruhig auf seinen Computer-Monitor gestarrt und auf Antwort gewartet – so wie einst auf den Postboten. Doch wären seine Worte für uns heute verloren gewesen, gelöscht oder als Datensatz in irgendeinem elektronischen Papierkorb gelandet. Für die Nachwelt wäre es ein unschätzbarer doch nie bemerkter Verlust gewesen.
„Einstweilen sieht es so aus, als entzöge die Technik den Briefen ihre Voraussetzung.“ Diese Überlegung entstammt nicht einer kulturpessimistischen Klage gegen das Internet, sondern wurde 1966 von dem Philosophen Theodor W. Adorno verfasst.
Schließlich hatte man jetzt das Telefon! In voller Blüte stand die Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert. In der Romantik war der Brief nicht nur schlicht die einzige Möglichkeit, sich über Entfernungen zu verständigen, sondern galt selbst als literarische Gattung.
Die nachgedruckten Briefwechsel prominenter Verstorbener umgibt bis heute eine „Aura des Authentischen“, die Mails oder Twitter-Mitteilungen abgeht. Die Generation Facebook hat sich unwiederbringlich von handschriftlicher Korrespondenz verabschiedet: In einer Forsa-Befragung aus dem Jahr 2013 gaben 71 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren an, der handschriftliche Brief habe keine Zukunft. Ist das schlimm? Soll man das beklagen?
Natürlich gibt es Millionen schreckliche, überflüssige Mails, doch auch geistreiche Texte finden elektronisch ihren Adressaten. Menschen finden über den Computer womöglich erst zum Schreiben, und das rasche Hin und Her ermöglicht auch eine neue Form des schriftlich geführten Dialogs, die zuvor nicht möglich war und den Austausch direkter, inhaltsreicher und vielleicht sogar substanzieller macht.
Auf der anderen Seite aber besteht die Gefahr, dass der fast in Echtzeit ablaufende Austausch von Mitteilungen via SMS oder Mail zu einer Profanierung des Geschriebenen führt. Dass Alltägliches, Banales und Spontanes die Gefühle und Gedanken ersetzen. Ein eher amüsantes Beispiel dafür liefert die amerikanische Datenanalytikerin Alice Zhao. Sie hat erforscht, wie sich der Wortschatz in den zahllos ausgetauschten Handy-Nachrichten über die Jahre verändert.
Die Texte werden immer kürzer
Dazu hat sie die SMS, die sie mit ihrem Mann seit dem ersten Rendezvous austauschte, gesammelt und ausgewertet. Zhao untersuchte, wie oft in den Kurznachrichten aus dem ersten Beziehungsjahr sowie im sechsten Jahr ihrer Partnerschaft verschiedene Begriffe auftauchten.
Und sie fand: Die Texte wurden immer kürzer und sachlicher. Aus „Komm sicher nach Hause und träum’ süß“ wurde nach sechs Jahren „Bis später.“ Aus „Hast Du Montag Zeit, mit mir essen zu gehen?“ wurde nach einigen Jahren die lapidare Frage: „Was gibt’s zum Abendessen?“
Sie schreibt: „Unsere Gespräche haben sich von ,Hi, wie geht es Dir?’ zu ,Ok, klingt gut’ gewandelt. Wir schreiben nicht mehr den Namen des anderen in unseren Nachrichten, wir schreiben nicht mehr so oft ,liebe’.“
Als sie ihren späteren Mann Ali kennenlernte, verwendeten beide das Wort so oft wie kaum ein anderes. Ähnlich erging es den schönen Worten Kuss, Nacht, Träume und vermissen. Die Romantik wich einem vom Alltag diktierten Pragmatismus.
Auch die Tageszeiten, an denen sie sich Textnachrichten schickten, haben sich im Laufe der Zeit geändert, fand Zhao heraus. Als junges Paar, das die Tage oft getrennt verbrachte, schickten sie sich vor allem abends und nachts Botschaften, überschütteten sich mit Liebesbekundungen und fragten bang, wo der andere gerade ist und was er macht.
Als Ehepaar änderte sich das auch deshalb, weil viele persönliche Dinge nun von Angesicht zu Angesicht besprochen werden konnten. Zhao: „Insgesamt betrachtet waren unsere Textnachrichten anfangs romantisch und persönlich. Da unsere Beziehung noch frisch war, haben wir uns bemüht, interessante und kluge Dinge zu schreiben. Im Laufe unserer Beziehung wurden unsere Nachrichten vorhersagbarer.“
SMS statt Liebesbriefe
Was diese persönliche Analyse zu Tage bringt, dürften viele Menschen kennen. Die Romantik verschwindet im Laufe der Jahre, wird im glücklichen Fall ersetzt durch eine vertrauensvolle und dem Alltag widerstehende Partnerschaft. Paartherapeuten nennen das die „Banalität des Guten“. Was aber sicher ist: Nie im Leben wären Zhao und ihr Mann auf die Idee gekommen, sich Briefe statt SMS zu schreiben. Das passt nicht mehr in eine digital verknüpfte Liebesbeziehung. Zu umständlich, zu zeitaufwendig, zu unspontan.
Allerdings lässt das im Vergleich zum raschen Tippen auf der Tastatur langsame Gleiten des Stiftes über Papier mehr Zeit, einen Gedanken zu verfolgen, zu überlegen und zu formulieren, gibt mehr Gelegenheit, sich über Gefühle und Worte klar zu werden. In manchen Ländern wird indes bereits gefragt: Müssen Kinder das Schreiben mit der Hand überhaupt noch lernen? Die alte Kulturtechnik des Schreibens scheint ausgedient zu haben.
Warum müssen wir noch Schreiben lernen? So fragen viele Kinder. Tippen reicht doch. Wofür braucht man die Handschrift eigentlich? Die Antwort darauf fällt nicht leicht. Für Briefe oder Postkarten? Dafür gibt es E-mails und SMS, zur Not kann man das auch ausdrucken. Aufsätze, Geschichten? Kann man ebenfalls drucken. Einkaufszettel? Im Smartphone speichern. Notizen und Formulare? Siehe oben. Für Liebesbriefe, Trauerbekundungen? Wäre handgeschrieben persönlicher, muss aber nicht sein.
Am Ende bleiben nur Poesiealben und Freundebücher übrig, in die man mit der Hand schreiben muss. Vermutlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis das Schreiben von Hand nicht mehr unterrichtet wird und irgendwann ganz verschwindet.
Wischen, tippen, klicken – der digitale Mensch benötigt den Stift in der Hand nicht mehr. Finnland hat die Zeichen der Zeit erkannt und schafft jetzt die Schreibschrift ab. Ist der abonnierte Pisa-Sieger dem Rest der Welt wieder einen Schritt voraus?
In Finnland jedenfalls hat die Schreibschrift keine Zukunft mehr, sie verschwindet ab Herbst 2016 von den Lehrplänen der Grundschulen. „Flüssiges Tippen auf der Tastatur ist eine wichtige Fähigkeit“, hält die finnische Bildungsministerin Minna Hermanen fest. Schneller Texte am Computer zu verarbeiten, gehört nun zu den Bildungszielen.
Einzelne Buchstaben mühsam mit der Hand auf Papier zu bringen sei für Kinder so hart, dass es zu Schreibblockaden führen könne, meint Hermanen. Wer beobachtet, wie schwer sich manche Kinder mit den ersten Schreibversuchen tun, mag ihr spontan recht geben. Untersuchungen haben gezeigt, dass etwa 30 Prozent der Jungen und 15 Prozent der Mädchen ernsthafte Probleme beim Erlernen der Handschrift haben. Diese Hürde kann man heute technisch umgehen: Tablet statt Tafel.
Schreiben ist wie Spielen
Der Computer löse das motorische Problem, und die Kinder könnten sich mehr auf den Inhalt und die Rechtschreibung konzentrieren, argumentieren die Befürworter. Auf der anderen Seite ist für die meisten Grundschüler das Malen erster Buchstaben eher ein Spiel, das sie mit Lust erlernen. Eine Schreibschrift mit verbundenen Buchstaben lernen die finnischen Kinder auch in Zukunft noch, wenn der Lehrer darauf besteht – allerdings zusätzlich zur Druckschrift und zum Tippen auf der Tastatur.
Geht nun das Abendland unter? Bei deutschen Bildungsexperten stößt der finnische Plan jedenfalls auf heftige Kritik. „Die Einübung der Handschrift in der Grundschule darf nicht zur Disposition gestellt werden“, kontert Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE).
Für Deutschland könne die finnische Entscheidung, die ähnlich bereits in den USA und der Schweiz diskutiert wird, kein Weg sein. Beckmann: „Bessere Lesbarkeit, die nur technisch erzeugt wird, taugt nicht als Lernziel in der Schule.“ Er halte nichts davon, das Schreiben mit der Hand abzuschaffen, sagt er und ist in diesem Punkt mit dem deutschen Grundschulverband einer Meinung.
Die Wissenschaft weiß: Schreiben mit der Hand ist mehr als nur das mühsame Fabrizieren von verbundenen Zeichen auf Papier. Es ist eine Höchstleistung des Gehirns. Es muss zugleich die Bewegungen der Hand, das Erkennen der Grammatik und der Wortbedeutung sowie die Bildung einzelner Buchstaben zu Worten koordinieren.
„Es ist ein immenser Lernvorgang, den so nur das junge Gehirn leisten kann“, sagt der Neurobiologe Martin Korte. Dafür müssen im Hirn Umbauprozesse in Gang gesetzt und dauerhafte Verschaltungen eingerichtet werden. Korte lehnt daher den Rechner als Lernhilfe ab. Versuche, bei Kindern die Worterkennung nur mit Hilfe des Computers zu festigen, seien gescheitert. Dies zeige, wie wichtig gerade für das junge Gehirn das Erlernen der Handschrift sei.
Tippbewegung hinterlässt im Gehirn keine Spuren
Schreiben, so fand die Wissenschaft heraus, ist ein kognitiver Prozess, der die Erinnerung des Gelernten verbessert und viele Hirnregionen aktiviert. Das Formen der Buchstaben mit der Hand legt im Gehirn offenbar Gedächtnisspuren an, die bei der Wahrnehmung von Worten wieder aktiviert werden. Neurowissenschaftliche Studien legen nahe, dass dies beim Tippen nicht passiert, da die Tippbewegung in keiner Beziehung zur Form der Buchstaben steht. „Bevor wir Laptops in Kindergarten und Grundschulen einführen, sollten wir wissen, was wir unseren Kindern damit antun“, mahnt der Psychologe Manfred Spitzer.
Experimente mit Studenten scheinen dies zu bestätigen. Die US-Psychologin Pam Mueller spielte 65 Studenten kurze Videofilme mit Aufzeichnungen von Vorträgen vor. Die eine Hälfte sollte am Laptop mitschreiben, was sie gehört haben, die andere bekam Block und Stift. Anschließend wurde abgefragt, was die Studenten behalten hatten.
Mueller stellte große Unterschiede fest: Wenn es allein um die Fakten ging – etwa Daten oder Jahreszahlen – schnitten beide Testgruppen etwa gleich gut ab. Doch wenn es um das Verständnis komplexer Zusammenhänge ging, erwies sich die Kugelschreiber-Gruppe als deutlich überlegen. Mueller beobachtete, dass die Laptop-Studenten während des Vortrags die ganze Zeit rasant auf ihre Tastatur tippten, während die andere Gruppe deutlich weniger notierte und vieles in eigenen Worten ausdrückte.
Beim Handschreiben werden Zusammenhänge besser deutlich
Ihr Fazit: Beim handschriftlichen Notieren beschäftigen sich die Menschen vermutlich mehr mit dem Verarbeiten des Gehörten als beim Tippen auf der Tastatur, während diese versuchten, möglichst alle Informationen einzugeben, ohne groß darüber nachzudenken. Die Handschreiber fassen demnach das Wesentliche besser auf, da sie das Gehörte sofort in eigene Worte übersetzen, sie begreifen somit die Zusammenhänge leichter und erinnern sich besser.
Schreiben ist eine Jahrtausende alte Kulturtechnik, Tippen eine relativ junge. Es macht indes wenig Sinn, das eine gegen das andere auszuspielen. Die moderne Kommunikation ist ohne elektronische Textverarbeitung nicht denkbar. Das muss hingegen nicht den Verzicht auf die Handschrift bedeuten, die zudem bei jedem Menschen ein Spiegel seiner Persönlichkeit ist, einzigartig und unverkennbar.
Wie jene von Franz Kafka, dessen typische Manuskripte durch Korrekturen, Anmerkungen und Durchstreichungen viel vom Prozess des Schreibens selbst, vom Gedankensuchen und -finden erzählen. Wie soll man besser in Worte fassen, was Schreiben, was ein Brief sein kann: „Ich nehme ein Stück, ein Stück von meinem Herzen,“ schrieb Kafka an einen Freund, „packe es sauber ein in ein paar Bogen beschriebenen Papiers und gebe es Dir.“