Das neue Buch von Charlotte Roche, „Schoßgebete“, ist mindestens so provokativ wie einst der Bestseller „Feuchtgebiete“. Roche schreibt darin über Sex in der Ehe, das Muttersein – und das Trauma jenes Unfalls, bei dem ihre drei Brüder starben.
Das „Hängebrücken-Experiment“ gehört zu den beziehungspsychologischen Klassikern: Eine schöne Frau verteilt ihre Telefonnummer an Männer – einmal in einer Fußgängerzone, einmal auf einer gefährlich schwankenden Brücke. Und? Die Männer von der Hängebrücke rufen die Frau viel öfter an, staunt Charlotte Roche: „Das bedeutet, dass man schneller eine Verbindung aufbaut, wenn man in einer extremen Situation ist.“
Damit hat sie uns, bewusst oder nicht, einen Schlüssel geliefert. Denn Roches neuer Roman ist zweifellos eine extreme Situation für uns Leser. Und vielleicht deshalb bleibt ihr Werk so hängen, lange noch nachdem die voyeuristische Gier befriedigt ist.
Denn wie schon in „Feuchtgebiete“ ist die Protagonistin der Autorin zum Verwechseln ähnlich. Elizabeth, 33, ist verheiratet mit dem sehr viel älteren Georg. Die ersten 17 Seiten nun erzählt sie mit viel Liebe zum biologischen Detail, wie sie unter der Heizdecke Sex haben, dass die Körpersäfte nur so fließen. Danach kocht sie für ihre siebenjährige Tochter Liza Wirsinggemüse und überlegt, „wie man eine gute Mutter darstellt“.
Bandwürmer und Bordellsex
Schon befinden wir uns im Charlotte-Roche-Wahnsinn, der alles mit allem verbindet und seine eigene Tabulosigkeit feiert, ob es nun um Bandwürmer oder Bordellsex geht. Diesmal sind es drei große Themen, die Roche im Plauderton verwirbelt: der Unfall, der Tod und, eben, der Sex.
Der Unfall: Elizabeth hat, wie Roche, vor acht Jahren ihre drei Brüder bei einem Autounfall verloren. Sie waren unterwegs zu ihrer Hochzeit nach England, die Mutter fuhr den Wagen. Elizabeth ist seither „gefangen in den Tagen, in denen das passierte“ und geht dreimal wöchentlich zu ihrer Therapeutin.
Vielseitige Charlotte Roche
Der Tod: „Im Grunde bin ich lebensfeindlich“, sagt Elizabeth. Nur für ihre Tochter verbietet sie sich, „was ich gerne machen würde: Drogen nehmen, mich kaputtsaufen, rumficken, feiern und vor allem – sterben.“ Ständig ändert sie ihr Testament, ihre „Notarssucht“ ist eine „Todessucht“.
Der Sex: dient der Überwindung des Unfalltraumas sowie der Todessucht und „ist der einzige Moment am Tag, an dem ich abschalten kann“. Gerne auch beim partnerschaftlichen Bordellbesuch. Die so genannte „Elisabeth-Überforderung“ dient dazu, Eifersucht sowie das Erbe verklemmter Frauen – ihre Mutter, Alice Schwarzer – zu bekämpfen. Auch träumt Elizabeth davon, mit einem anderen Mann zu schlafen.
Selbsttherapie oder Literatur?
Huch – sind Frauen heute so? Wir freuen uns jetzt schon auf die öffentliche Debatte, wollen aber noch lieber wissen: Ist das mehr als Selbsttherapie, ist das Literatur? Ja. Doch. Roches gewollt ungelenke Sprache gleicht einer Collage. Neben dem „noch und nöcher“ strapazierten Holpergeplauder stehen Therapeutendeutsch und Wissenschaftsprosa, die Elizabeth in „Geo kompakt“ nachgelesen hat („das ist ja wohl meine neue Sexbibel!“). In den besten, witzigsten Momenten persifliert sie den gefühllosen Boulevardslang, etwa, als sie vom Unfall erfährt: „Sie lebt, aber sie ist schwer verbrannt? Mit was man sich so herumschlagen muss im Leben.“
Auch Elizabeth ist eine überzeichnete Kunstfigur. „Dieser Roman basiert auf einer wahren Begebenheit“, heißt es. „Darüber hinaus ist jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ... rein zufällig und nicht beabsichtigt.“ Das muss man ernst nehmen! Elizabeth, die „Hardcoreatheistin“ und Safran-Foer-gläubige Vegetarierin, spiegelt als geniale Karikatur ihre Frauengeneration. Die man die Aber-Frauen nennen könnte: feministisch, aber lustbetont, aber mütterlich, aber stylisch, aber umweltbewusst. UND bedürftig: „Ich löse mich fast auf in dem Wunsch zu gefallen. Meinem Mann, meiner Therapeutin, meinem Kind, den Nachbarn, den Freunden. Bis nichts mehr von mir übrig bleibt.“
Trauma und Trauer
Ungeheure Wucht entfaltet die Figur durch jenes Unfall-Trauma, das die Autorin selbst durchlebt hat, nun aber eher abwehrt als aufarbeitet. „Entweder Tote oder anal, was anderes gibt’s wohl nicht in meinem Kopf“, aus Sätzen wie diesem besteht der provokative Schutzwall. Berührend wirken die Leerstellen. Von den verunglückten Brüdern erfahren wir ja nicht mehr als Namen und Alter: Harry (24), Lukas (9) und Paul (6). Roches Roman ist ein Manifest der Trauer im Mantel des Frivolen.
Charlotte Roche: Schoßgebete. Piper Verl., 288 S., 16,99 €