Dortmund.. Am Dortmunder Schauspiel beleben Laien das antike Theater wieder. Der Sprechchor, als „17. Ensemble-Mitglied“ besetzt, spielt nun sein eigenes Stück. Die Premiere von „Das phantastische Leben der Margot Maria Rakete“ an diesem Samstag ist bereits ausverkauft.
Ein großer Chor: gerade Haltung, Blick nach vorn, Männer in Unterzahl, das Übliche. Einatmen, Einsatz, „dann Schnitt!“, heißt es fortissimo im Text. In der folgenden Pause verhallt das gesprochene Wort. Aber die singen ja gar nicht! Können die das nicht?
„Die korrekte Frage wäre“, findet Alexander Kerlin: „Warum haben andere Theater keinen Sprechchor?“ Früher, ganz früher, war so ein Chor fast das ganze Theater. Die griechische Tragödie lebte davon, mit der Macht der Masse trat er auf, kommentierte, klagte und litt mit dem Helden. Und ist der Held, der einzelne Darsteller nicht erst aus der Menge erwachsen? Dramaturg Kerlin findet die Idee „normal: ein Chor von Bürgern einer Stadt, die sich einmischen“.
So ist der Sprechchor am Dortmunder Schauspiel tatsächlich entstanden, aus Bürgern der Kulturhauptstadt 2010, Laien, die bis heute nicht viel mehr verbindet als ein Mail-Verteiler. „Ganz normale Leute zwischen 14 und 90“, sagt Alexander Kerlin, „und fleißig“: Sie müssen viel auswendig lernen. Sie machen etwas zusammen, „tragen gemeinsam Verantwortung“, wie Elisabeth Stamm sagt. Theaterspielen sei ihr zu fremd, Singen kann die 62-Jährige wegen ihrer Stimmbänder nicht mehr, nun finden sie und die „Choreuten“, wie Kerlin sie nennt, es „exklusiv, mitzukriegen, wie ein Text erst entsteht „und dann spricht man ihn“. Man produziere etwas, sagt Anne Grundmann, „aber nicht sich selbst“.
Sie sprachen die Bürgerschaft Thebens und bei Büchner ein Echo
Auch die Regisseure des Dortmunder Schauspiels sind begeistert, besetzen „das 17. Mitglied“ des Ensembles: Es war schon Teil einer Adaption von Lessings „Nathan der Weise“, war die Bürgerschaft Thebens in „Antigone“, war ein Echo für „Leonce und Lena“. „Eine Lawine“, sagt Kerlin, „die nicht mehr aufzuhalten ist.“ Die er ja angeschubst hat mit Schauspieler Christoph Jöde: mit einem Text, den sie „das Gründungsding“ nennen, einer Wortcollage über Dortmund, mit dem der Sprechchor „Ruhr.2010“ verabschiedete und später das neue Einkaufszentrum nebenan begrüßte.
Man fuhr Rolltreppe und sprach solche Sätze: „Die Stadt gehört uns, die Stadt gehört euch. . . Gedränge, Geschiebe, Geschäfte!“ Das irritierte Sicherheitspersonal führte den Dirigenten ab, der Chor verstreute sich in seine hundert Einzelbürger, Dortmund hatte eine Debatte über die Freiheit der Kunst.
Und nun bekommt der Sprechchor sein eigenes Stück, tritt vom Rand der Bühne in ihre Mitte. „Das phantastische Leben von Margot Maria Rakete“ ist so etwas wie die Summe aus den Leben der „Choreuten“. Szenen, Träume, Lieblingsfarben: Kerlin und Jöde haben ihren Chor als „Rohstoffkasten“ benutzt, ein Stück über Herkunft und Zukunft gemacht. Ein „dionysisches Stimmkonzert“ soll es sein, eine Sinnsuche – steckt in dieser monströsen „Margot“ nicht auch „Gott“? Es wird eine einzige vielstimmige Rede, nur ohne Musik.
Dabei ist es ja Musik: das gleichzeitige, rhythmische Artikulieren, das Muster aus Laut und Leise, viele Menschen, die mit einer Stimme sprechen. Und wie ein Körper stehen: „Wenn einer sich kratzt“, sagt Alexander Kerlin, „merkt man das sofort.“ Wenn einer dazwischenredet, sowieso. Sie sind hier am Schauspiel, aber sie dürfen nicht spielen. Wie aber bringt man beredte Hände, vielsagende Mienen zum Schweigen? Es klingt ja so einfach: stehen, präsent sein, deutlich sprechen, an der richtigen Stelle atmen.
Aber es ist so schwer: „Stell dich einfach hin und sei da.“ Sei traurig, wütend, leidenschaftlich, froh – aber zeige es nicht. Natürlich stehen da Talente unter den Rednern. „Die wollen spielen wie die Großen.“ Und sollen doch alle eins sein, es gilt, nicht aufzufallen. „Wir versuchen, wirklich Kunst zu machen“, betont der Dramaturg. Die Diskussion darüber im Chor, das Unterordnen vieler Wörte zu diesem einen Text, sei auch „ein Experiment der Demokratie“.