Essen. Paare, die ihr ungeborenes Kind verloren haben, fallen oft in ein tiefes Loch. Nadine Heming erklärt, wie sie wieder nach vorne blicke können.

Endlich zeigt der Schwangerschaftstest zwei Striche – positiv! Von nun an beginnt für Paare ein völliger neuer Lebensabschnitt. Sie bekommen die ersten Ultraschallbilder, können zusehen, wie der Bauch von Woche zu Woche wächst und spüren die Tritte ihres Kindes. Doch nicht immer geht alles gut. Etwa jede dritte Schwangerschaft endet mit einer Fehlgeburt, im Jahr 2019 kamen laut statistischem Landesamt mehr als 700 Kinder in NRW tot zur Welt.

Nadia Heming von der Awo-Beratungsstelle in der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Essen begleitet Frauen und Paare, die ihr Kind während der Schwangerschaft oder bei der Geburt verloren haben. Sie erklärt, wie Eltern mit diesem schweren Verlust umgehen und trotz der Trauer wieder nach vorne blicken können.

Wo liegt der Unterschied zwischen einer Fehl- und einer Totgeburt?

Wenn ein Kind kurz vor oder bei der Geburt stirbt und mindestens 500 Gramm wiegt, spricht man von einer Totgeburt. Endet die Schwangerschaft vor der 24. Schwangerschaftswoche, also bevor das Kind lebensfähig ist, handelt es sich um eine Fehlgeburt. Neben genetischen Störungen können Infektionen, eine Fehlbildung der Gebärmutter oder eine Störung der Plazenta die Ursache sein.

Entscheidend ist aber, was die Frau oder das Paar denkt und fühlt, nicht wie dick der Bauch war. Frauen spüren ab dem ersten Tag die Veränderungen ihres Körpers. Sie bekommen einen Mutterpass, das erste Ultraschallbild, sehen das kleine Herz pochen. Für erwartungsvolle Eltern ist das ihr Kind, das im Bauch heranwächst.

Dr. Nadia Heming begleitet Frauen und Paare, die ihr Kind während der Schwangerschaft oder bei der Geburt verloren haben.
Dr. Nadia Heming begleitet Frauen und Paare, die ihr Kind während der Schwangerschaft oder bei der Geburt verloren haben. © Unbekannt | Heming

Vor allem Frauen, die sehr früh ihr Kind verloren haben und vielleicht noch gar nicht sichtbar schwanger waren, kommen aber fast immer alleine zur Beratung. Männer haben zu diesem Zeitpunkt oft noch keine Bindung zu dem ungeborenen Kind aufgebaut. Und auch von außen hören Frauen dann oft: „Da war doch noch gar nichts“ oder „Das passiert doch oft“. Eine Frau dagegen, deren Kind kurz vor oder während der Geburt verstorben ist, wird als eine Mutter angesehen, die ihr Kind verloren hat. Sie hat ein Anrecht auf Mutterschutz und bekommt eine Geburtsurkunde. Frauen, die eine Fehlgeburt hatten, werden höchstens krankgeschrieben.

Wie lernt man, mit einer Fehl- oder Totgeburt umzugehen?

Der Schmerz ist erst einmal da und er geht auch so schnell nicht weg. Frauen fühlen sich alleinverantwortlich für das Kind, schließlich tragen sie das Baby im Bauch. Eine Fehl- oder Totgeburt bedeutet für Frauen, dass das Kind in ihrem Bauch verstorben ist, dem Ort, an dem es eigentlich am geschütztesten ist. Viele Frauen zweifeln an sich. Sie fühlen sich nicht gut genug und sind oft auf der Suche nach der Schuld. Sie stellen sich die Frage nach dem Warum. „Warum passiert mir das? Andere Frauen trinken Alkohol oder rauchen und bekommen gesunde Babys und ich habe doch eigentlich alles richtiggemacht.“

Doch diese Frage lässt sich oft nicht beantworten. Ihr Körper hat nicht zu 100 Prozent funktioniert, aber das hat die Frau nicht selbst zu verantworten. Die Mutter trifft keine Schuld. Sie hatte nicht zu viel Stress, hat nichts Falsches gegessen oder sich zu viel bewegt. In den allermeisten Fällen hat etwas biologisch nicht gut funktioniert. Es gibt keine einhundertprozentige Sicherheit. Man muss lernen zu verstehen, dass es Dinge gibt, die nicht zu begründen, nicht zu erklären sind.

Wo Betroffene Hilfe finden

Beratungsstellen können betroffenen Eltern helfen, den Verlust ihres Kindes zu verarbeiten. Informationen und Angebote finden Betroffene zum Beispiel unter www.lore-agnes-haus.de/beratung/krisenintervention/beratung-nach-fehlgeburt.In der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Essen wird außerdem eine spezielle Sprechstunde für Frauen und Paare nach mehreren Fehlgeburten angeboten.

Für Frauen, die schon ein Kind haben, ist eine Fehl- oder Totgeburt oft leichter zu ertragen. Sie haben die Hoffnung und Gewissheit, dass es funktioniert und noch einmal funktionieren kann. Das ist ein großer Trost. War eine Frau zum ersten Mal schwanger, sind ihre Ängste vor einer erneuten Fehlgeburt meist größer. Es gibt allerdings auch Ursachen, die man herausfinden und beheben kann. Und ganz häufig klappt es dann beim zweiten Mal.

Wie verlieren sich Paare bei einem so schweren Verlust nicht aus den Augen?

Männer und Frauen gehen häufig ganz unterschiedlich mit dem Thema um. Männer neigen dazu, sich bei Problemen in die Arbeit zu stürzen. Frauen dagegen wollen reden, reden, reden – mit dem Partner, einem Psychologen oder anderen Betroffenen. Frauen und Männer müssen das gleichermaßen akzeptieren und einen Umgang finden, der für beide gut ist. Sich mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen und sich professionelle Hilfe zu suchen ist aber in jedem Fall ein Zeichen von Stärke und nicht von Schwäche.

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Warum kommt für Frauen im Fall einer Totgeburt ein Kaiserschnitt nicht in Frage?

Aus medizinischer Sicht ist ein Kaiserschnitt für ein verstorbenes Kind niemals notwendig. Ein Kaiserschnitt bedeutet ein zusätzliches Risiko für die Mutter und für eine folgende Schwangerschaft. Es gibt aber viele Frauen, die im Nachhinein sagen, dass es gut war, dass sie ihr Kind auf natürlichem Weg zur Welt gebracht haben. Selbstverständlich sind die Schmerzen leichter zu ertragen, wenn man etwas hat, auf das man sich freut. Aber auch ein totes Kind ist das eigene Kind, das lässt man ja auch nicht einfach liegen. Auch wenn es schwerfällt: Manchmal ist der schwierigere Weg derjenige, der sich nachher besser anfühlt.

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