Madrid. Mick Jagger & Co werden plötzlich ergreifend – und das im Stadion: die „Sixty“-Tournee lieferte zum Auftakt in Madrid viel Blues und Rock.

So richtig ans Herz gehen die Rolling Stones eigentlich selten, sie zielen ja mehr auf Bein und Kopf. Aber der Europa-Auftakt ihrer „Sixty“-Tournee vor 53.000 Fans im nicht ganz ausverkauften

Verbeugung vor Charlie Watts auf dem Riesen-Bildschirm.
Verbeugung vor Charlie Watts auf dem Riesen-Bildschirm. © AFP | Hans Klaus Techt

Metropolitano-Stadion von Atlético Madrid war dann doch ergreifend: Gleich zu Beginn mit der Verbeugung vor ihrem großen Schlagzeuger und Band-Stabilisator Charlie Watts, der im August vergangenen Jahres starb und den immer noch alle in der Crew vermissen, weil der den meisten ein Freund war oder so vorkam, und der nun akustisch und mit Fotos aus seiner Band-Vergangenheit die ersten Takte der „Sixty“-Show vorgibt.

Und später wird es rührend mit Ronnie Wood, dem Band-Küken seit seiner ersten Verpflichtung 1975 als Aushilfsgitarrist: Er war an diesem Tag 75 geworden und stand deshalb auf der Bühne im Konfetti-Regen, während das Stadion unter Anleitung von Mick Jagger „Happy Birthday“ anstimmte. Ein bisschen leidtun musste einem Wood angesichts der Dezibel und Wärme, die später die „Olé, oléoléolé“-Schlachtgesänge für Keith Richards (78) erreichten.

„Sympathy For The Devil“ um Mitternacht, „Satisfaction“ als letzte Zugabe

In ihrem „Sixty“-Programm legen die Stones mit „Street Fighting Man“ los, und Richards reißt die Saiten so rau und scharf an wie in sehr alten Tagen. Jagger begrüßt die Fans in sehr britischem Spanisch, und es geht weiter mit dem „19th Nervous Breakdown“ und anderen Hits aus der zweiten und dritten Reihe. Und es wird nicht nur beim „Midnight Rambler’ deutlich, wie sehr die Stones aus dem Blues kommen. Es ist vielleicht überhaupt ihr Erfolgsrezept, dass sie Menschen und Stimmungen aus dem tiefen Tal der Tränen abholen – und aus dem Bad in Tränen, aus dem Herausschreien des Ungenügens, des Mangels, der Sehnsucht zu neuer Stärke gelangen: „You Can’t Always Get, What You Want“, „(I Can Get No) Satisfaction“, „Beast Of Burden“, „Paint It Black“…

Um Mitternacht spielen sie „Sympathy For The Devil“ und später auch „Gimmie Shelter“ mit Bildern von zerbombten Wohnhäusern in der Ukraine. Zu „Jumpin‘ Jack Flash“ steckt sich Jagger das Mikro in den Hosenbund, um ordnungsgemäß abzurocken. „Miss You“, das ja auch zu den Songs voll Sehnsucht und des Ungenügens gehört, wird vom Disco-Stil in Richtung Funk gejagt, vor allem von Darryl Jones, dessen Bass-Soli gar nicht lang genug sein können. Während sich Ersatz-Drummer Steve Jordan, der schon bei der Nordamerika-Ausgabe der Tournee noch zu Lebzeiten des erkrankten Charlie Watts im Einsatz war, alle Mühe gab, genauso zurückhaltend-zuverlässig zu trommeln wie sein Vorgänger.

Die Rolling Stones probten sechs Wochen in Amsterdam

1963 brachen die Stones zu ihrer ersten Tournee überhaupt auf, und wenig später muss das Motiv jener 70–Cent-Briefmarke entstanden sein, mit der Großbritannien nun seine einstigen „Glimmer Twins“ (die Älteren werden sich noch erinnern) ehrt – ein Etikett, das wegen der zunehmenden Knicke, Falten und verwitterten Stellen immer weniger passen will, auch wenn Jagger immer noch ganz gern Pailletten- oder Glitzer-Jäckchen trägt. Seit etwa drei Jahrzehnten leben die Auftritte der Stones in den Stadien dieser Welt nicht zuletzt davon, dass sich Fans befürchten, es könne die letzte Gelegenheit sein. Dale Skjerseth, der seit 40 Jahren die Stones-Tourneen als Produktionsdirektor betreut, stilisiert das gern zu dem Satz: „Die Stones sind in einer Liga, dass sie nie eine Abschiedstournee machen werden – jede könnte ihre letzte sein, ja. Aber sie werden es nicht vorher wissen.“

J

Jagger in Action.
Jagger in Action. © dpa | Hans Klaus Techt

edenfalls sind sie seit fünf Jahren nicht mehr in Europa aufgetreten, 2019 war diese leidige Herz-OP für Mick Jagger, dann kam Corona… Aber jetzt: Sechs Wochen haben sie in Amsterdam für die Show geprobt (was man kaum glauben mag, wenn man die Band zum 7432. Mal „Start Me Up“ spielen hört, was aber vielleicht mit einem gewissen Perfektionsdrang zu tun haben könnte). Die Bühne ist 55 Meter breit, 17 Meter hoch, mit Riesen-Bildschirmen, damit Jagger den Leuten auf den billigen 99-Euro-Plätzen nicht allzu mickrig vorkommt. Auf der Bühne hat er 200 Quadratmeter Platz zum Austoben, inklusive eines Laufstegs, auf dem Jagger die Inhaber der 300-Euro-Tickets mit Hinternwackeln, Glitzerhemden und Gesang im Laufschritt beglückt. Der Mann, der im Juli 79 wird und für einen abgebrochenen BWL-Studenten mit einem geschätzten Vermögen von über 400 Millionen Euro nicht schlecht dasteht, er braucht diese Shows, weil er nur auf der Bühne Mick Jagger sein kann. Aber man mag es kaum glauben, es ist seit Jahrzehnten der beste Mick Jagger seit Jahrzehnten, erzvital, stark im lasziven Hüftschwung und stimmlich wie tänzerisch ohne jedes Nachlassen. Nach zwei Stunden gibt es noch eine hinreißend lange, herreißend rockige Version von „Satisfaction“.

Und wer wissen will, warum sich die älteren Herrschaften auf der Bühne immer noch erfolgreich solche Mühe gebe, bedenke was Keith Richards neulich erst in einem Interview gesagt hat: „Ich bin ziemlich glücklich, dass ich immer noch diese Arbeit habe. Was sollte denn sonst aus mir werden?“

Weitere Konzerte: 5. Juni München, 13. Juni Amsterdam und 27. Juli Gelsenkirchen.