Neuss. William Shakespeare war Avantgarde und verlor doch nie die Bodenhaftung. Was Shakespeare noch mit der heutigen Zeit zu tun hat, zeigt das verwunschene Globe-Festival in Neuss. Sinnenfreuden, wie von dem englischen Dramatiker selbst erdacht.

Er bewegte die Massen, aufrührerisch. Seine Theaterstücke stellten die Frage nach Gut und Böse, schlimmer noch: nach Männlein und Weiblein, verwischte er doch die Geschlechtergrenzen bis zur Unkenntlichkeit. Seine Darsteller spielten hart am Rande von Recht und Bibel und sie wurden bejubelt dafür, das machte der Regierung Sorgen. Aus den Reaktionen des Publikums – bis zu 3000 Menschen strömten in die Vorstellungen – schöpfte der Theaterautor neue Ideen, Gedanken, die sogleich in seine Stücke einflossen.

Das alles war ungefähr so, als würde heute ein Fußballstadion skandalträchtige Daily Soaps gucken und sofort darüber twittern.

William Shakespeare war Avantgarde und verlor doch nie die Bodenhaftung. Das Festival zu seinen Ehren, im 19. Jahr in Neuss ausgerichtet, gefiele ihm: All die Menschen, die sommernachtsträumend ihre Picknickkörbe auspacken auf Holztischen, die ein Eis kaufen aus dem Bauchladen junger Männer. Sinnenfreude, wie von Shakespeare erdacht. Auch die Windlichter, die Lavendeltöpfchen, die eine Rennbahn in einen verwunschen Ort verwandeln, hätte er gemocht. Und sicherlich den Kies und Matsch der Baustelle mit einem „Ach, viel Lärm um nichts!” hinfortgefegt.

„Shakespeare ist ein bisschen wie Sex.”

„Shakespeare ist ein bisschen wie Sex”, sagt Patrick Spottiswoode: „Gut, aber beim ersten Mal – schwierig.” Spottiswoode sagt das natürlich auf Englisch. Er ist Brite, als „Lecturerer” der heimliche Star des Neusser Globe-Festivals und Schwarm mancher Englischlehrerin. Spottiswoode kommt vom Londoner „Globe” und kennt seinen Shakespeare ebenso wie sein Publikum. Also verpackt er seine Weisheit in frivole Ironie und britische Grimassen und zerrt peinlich berührte Oberstufenschüler auf die Bühne, um den Geschlechtswirrwarr der „Twelth Night” zu erläutern: Eine Schauspieler spielt eine Frau, die sich als Mann verkleidet, in den sich eine Frau verliebt, die von einem Schauspieler gespielt wird – „Was ihr wollt” als Vorläufer des ja ebenso klassischen „Alles kann, nichts muss”. Dass Männlein Weiblein sein musste, hatte ja mit den Gepflogenheiten der Zeit zu tun: Es gab keine Schauspielerinnen.

An diese Regel hält sich die „Bremer Shakespeare Company”, die es sonst genau nimmt mit dem Großmeister und durchaus auf Klamauk setzt, zum Glück nicht. Und so sehen wir in „Maß für Maß” eine Klosterschülerin Isabella, wie sie zarter nicht sein könnte. Zum Anbeißen zart, findet Angelo, der kurzzeitig vom Herzog die Regierungsgeschäfte übernahm. Er schlägt Isabella einen Deal vor: Begnadigt er ihren Bruder, der wegen Unzucht zum Tode verurteilt ist, schenkt sie ihm eine Nacht.

Modern, isn't it?

Altbackenes Zeug? Im Gegenteil. Angelo ist ja eingesetzt worden vom Herzog, um den Staat zu stärken, die Gesetze endlich anzuwenden – weil der Herzog selbst zu weich, zu nett regierte. Und nun verfällt dieser Angelo, der Aufräumer, der Tugendhafte, selbst der Sünde. Wie viel Staat muss sein? Darf Politik sich über ihre Bürger erheben? Solche Fragen stellte good old Shakespeare, und auch jene nach der Vorbildfunktion von Führungskräften. Modern, isn't it?

Da verzeihen wir sogar den arg ausgefransten Schluss, an dem jeder noch einmal mit jedem spricht und einer unmotiviert vom Galgen baumelt – hier merkt man, dass in 400 Jahren die Sehgewohnheiten doch leicht andere geworden sind. Ödes Ende: Das twittern wir diesem Shakespeare aber gleich mal!