Düsseldorf. .

Fotografie-Ikone Stephen Shore macht seit mehr als 50 Jahren Bilder – und will mit ihnen nichts weniger als die Welt sichtbar machen. Das NRW Forum in Düsseldorf zeigt ab Samstag seine Ausstellung. DerWesten traf den Künstler zum Gespräch.

Stephen Shore hat vor 49 Jahren seine ersten Fotografien an das Museum of Modern Art verkauft. 30 Blocks weiter nördlich steht in seiner Heimatstadt New York das Metropolitan Museum of Art, das ihm vor 39 Jahren eine Einzelausstellung widmete – die erste überhaupt für einen lebenden Fotografen. Heute ist Stephen Shore erst 62, viel zu jung, um schon so lange Legende zu sein. Die Schule hat er abgebrochen, seine „Uni“ war Andy Warhols „Factory“, und wenn man in den Bildern dieses Autodidakten versinkt, ist man froh, dass er so wenig Zeit mit institutioneller Bildung und so viel mit Sehen verbracht hat. Was er gesehen hat, zeigt das NRW Forum in Düsseldorf vom 11. September bis 16. Januar: „Der Rote Bulli“ heißt die Ausstellung im Rahmen der Quadriennale 2010, die sichtbar machen soll, welchen Einfluss Stephen Shore auf die Neue Düsseldorfer Fotografie hatte. Präsentiert werden unter anderem Arbeiten aus seinen berühmten Werkgruppen „American Surfaces“ und „Uncommon Places“, die in den 70er Jahren auf Reisen durch die USA entstanden sind. Am Samstag bekommt Shore, einer der Pioniere der „New Color Photography“, im NRW Forum von der Deutschen Gesellschaft für Photographie den Kulturpreis 2010 verliehen.

Sie fotografieren seit mehr als 50 Jahren. Gibt es irgendwas, was Sie noch nicht gesehen haben?

Stephen Shore: Bestimmt. Aber was es ist, fällt mir nicht ein. Wenn es mir einfallen würde, würde ich es fotografieren. Übrigens denken ja alle immer, in der Fotografie sei alles schon mal dagewesen. Und dann kommt einer und sieht die Dinge auf eine frische Art – eine, die uns nicht eingefallen ist.

Was macht ein Foto gut?

Shore: Ich glaube, darauf gibt es nicht nur eine Antwort. Ein Kunstwerk kann viele verschiedene Dinge tun; manche Künstler betonen den einen Aspekt mehr als einen anderen. Bei mir gibt es Tage, an denen ich über formale Fragestellungen nachdenke, an anderen Tagen beschäftige ich mich mit kulturellen Phänomenen.

Ich möchte vermitteln, wie die Welt in einem Zustand hochsensiblen Bewusstseins aussieht. Ich finde aber nicht, dass das der einzige Grund ist, Kunst zu machen. Deshalb ist es eben so schwer zu sagen, was ein Kunstwerk gut macht: Jemand anderes könnte eine ganz andere, genauso relevante Intention haben.

Gibt es Bilder, bei denen Ihnen der Atem stockt?

Shore: Ja. Eins, von dem ich einen Print besitze, den ich mir immer wieder ansehe, ist von Garry Winogrand, aufgenommen bei der New Yorker Weltausstellung 1964. Sieben Leute auf einer Parkbank - ein absolut fantastisches Bild, bei dem ich nicht müde werde, es anzusehen.

Was zieht Sie so an?

Stephen Shore. Foto: Monika Idems
Stephen Shore. Foto: Monika Idems

Shore: Die Intensität des Moments, die Komplexität der Interaktionen der Menschen untereinander - und die wunderschöne Poesie dieses Austauschs. Es hat fast etwas Ballett-artiges, all die Posen. Es ist wirklich unglaublich. Haben Sie schon mal versucht, einen Menschen zu fotografieren und den exakt richtigen Moment abzupassen? Dann überlegen Sie, wie schwierig es ist, zwei Menschen gleichzeitig zu fotografieren und die beiden im genau richtigen Moment zu erwischen. Und erst bei sieben Menschen...

Als Fotograf weiß ich, dass das eine Konzentrationshöchstleistung ist. Ein Teil davon – dieser wache Geist - wird auf eine subtile Weise durch die Fotografie transportiert. Wenn jemand etwas mit großer Aufmerksamkeit tut, kann die Arbeit diese geistige Lebendigkeit ausstrahlen.

Stephen Shore Church Street and Second Street, Easton, Pennsylvania, June 20, 1974 © Stephen Shore, Courtesy 303 Gallery New York
Stephen Shore Church Street and Second Street, Easton, Pennsylvania, June 20, 1974 © Stephen Shore, Courtesy 303 Gallery New York

Ich finde es interessant, dass Sie dieses hohe Maß an Bewusstsein so betonen, wo ihre Fotografien auf viele Betrachter beiläufig, sogar zufällig wirken.

Shore:Wo sehen Sie die Zufälligkeit? In der Art, wie ich die Fotos aufnehme oder in den Motiven?

Ich sehe sie gar nicht in Ihrer Arbeit, aber viele Leute schon. Viele fragen sich: Warum hat der das fotografiert – einen schmutzigen Kühlschrank, ein Telefon, einen Sesselchen auf einer Wiese – und warum ist das Kunst?

Shore:Ich versuche mal, das auf zwei Arten zu erklären. In der Ausstellung hängt eine meiner Fotografien mit einer Plakatwand, auf der ein Berg mit einem unglaublichen Himmel dahinter zu sehen ist. Das ist ein wundervolles Bild, ich mag es sehr, aber es mir keine besonders große Anstrengung abverlangt, das Bild zu sehen. Ich fahre die Straße entlang, blicke in den Rückspiegel, sehe das Plakat, denke „Ach du Scheiße!“, fahre rechts ran und mache das Foto. Es braucht mehr Aufmerksamkeit, das hier zu sehen - (Shore deutet auf ein Körbchen mit zwei Scheiben Brot, eine Colaflasche und ein Glas auf dem Tisch, die Reste seines Mittagessens) – und darin ein Bild zu erkennen.

Wenn Sie diese bewusste Aufmerksamkeit aufrecht erhalten wollen, diese bewusste Eigenwahrnehmung – fällt Ihnen das leichter, wenn Sie ein Stück Brot betrachten oder wenn Sie mit ihrer Mutter telefonieren?

Wenn ich ein Stück Brot betrachte, würde ich sagen.

Shore: Weil die andere Situation emotional aufgeladen ist und das Aufrechterhalten der bewussten Wahrnehmung das letzte ist, woran Sie denken! Sie denken: „Ich liebe meine Mutter, aber ich brauche eine Pause!“ Also ist es doch vielleicht so: In den neutraleren Situationen, im alltäglichen Leben ist der Weg zu diesem Zustand der Wahrnehmung breiter. Er kann sich auch in anderen Situationen eröffnen, aber man findet den Zugang besser im alltäglichen Leben.

Diese Bilder sagen auch noch etwas anderes: Sei nicht nur aufmerksam, wenn etwas Dramatisches passiert – guck immer genau hin!

Weil das der größte Teil des Lebens ist...

Stephen Shore El Paso Street, El Paso, Texas, July 5, 1975 Courtesy Stephen Shore/Aperture Foundation
Stephen Shore El Paso Street, El Paso, Texas, July 5, 1975 Courtesy Stephen Shore/Aperture Foundation

Shore: Richtig. Da kann man’s genauso gut interessant gestalten. Aber es gibt noch eine andere Seite. Die eine ist die Frage: ,Warum fotografiert der bloß diese Colaflasche und den Brotkorb?’ Die andere ist die Frage: ,Warum nimmt er ein Foto auf, das nicht mal danach aussieht, als habe er fotografiert? Das vielmehr so aussieht, als habe er gar nichts getan?’

Das ist eine andere Sache, mit der ich mich beschäftigt habe: Wie bauen Menschen ihre Fotografien auf – und wie sehen wir eigentlich? Und: Kann ich ein Foto aufnehmen, das wie Sehen aussieht? Meine Bilder sind – in meinen Augen – extrem dicht strukturiert, ganz offensichtlich und sehr bewusst aufgebaut. Aber ich frage mich immer wieder: Wie kann ich es natürlicher aussehen lassen?

Haben Sie Tipps, wie man bewussteres Sehen üben könnte?

Shore: Ich könnte Ihnen sagen, was ich getan habe, um es zu lernen: Genauso, wie Sie einen Screenshot von Ihrem Computerbildschirm machen können, können Sie einen Screenshot von ihrem Blickfeld aufnehmen – und sich, auch wenn nichts Dramatisches passiert, bewusst machen, was Sie tatsächlich sehen.

Im NRW Forum sind Bilder aus Ihren Projekten „American Surfaces“ und „Uncommon Places“ zu sehen, dazu frühe Konzept-Arbeiten. Die jüngsten Bilder sind aus den späten 70ern. Stört es sie eigentlich, dass ihre jüngeren Arbeiten so wenig Aufmerksamkeit bekommen?

Shore: Ja.

Was glauben Sie, warum das so ist?

Shore: Weil die anderen die Arbeiten sind, die in der Fotografie gewisse Grenzen verschoben haben. Es klingt egozentrisch, wenn ich das über mich selbst sage, aber wenn wir realistisch sind, dann ist das der Grund.

In dem nächsten Buch, das bei Phaidon über meine Arbeit erscheinen wird, wird es um eine digitalen Arbeiten gehen, hauptsächlich der vergangenen fünf Jahre. Ich versuche also, Abhilfe zu schaffen.

In den 90ern haben Sie in Schwarz-Weiß gearbeitet. Das sind Fotografien, die man nicht häufig sieht.

Shore: Einiges davon ist gedruckt, etwa in dem Phaidon-Buch „Stephen Shore“ in der Reihe „Contemporary Artists“. Um vier Serien geht es da: Steine und Bäume, archäologische Ausgrabungen, Fotografien, die im italienischen Luzzara aufgenommen sind und Straßenszenen-Panoramen aus New York. Das war das letzte mal, dass ich in Schwarz-Weiß gearbeitet habe.

Street Photography ist sehr weit weg von dem, was Sie in den 70ern gemacht haben – weil Sie nicht kontrollieren können, was passiert.

Shore: Ich bin schon immer ein großer Fan von Garry Winogrand gewesen. Ich habe mehr Winogrands in meinem Haus hängen als irgendeinen anderen Fotografen. Ich hatte noch nie solche Arbeiten gemacht. Ich wollte mir selbst eine Aufgabe stellen, eine die so schwer wie möglich sein sollte. Ich wollte ausprobieren, ob ich Winogrand-artige Straßenszenen fotografieren könnte – mit einer Großformatkamera.

Hört sich schwierig an, bei all der Bewegung.

Shore: Und weil man nicht scharfstellen und dann auslösen kann. Man stellt scharf, legt den Film ein, dann spannt man den Verschluss, schließt die Blende, zieht die Folie raus – und löst dann aus. Auf eine Straße in der Stadt, auf der sich Menschen bewegen, kann ich nichts scharfstellen, was gerade passiert.

Ich denke mir also eine Fokus-Fläche. Ich weiß, wo sie anfängt und aufhört, und dann stehe ich da, die Kamera ist bereit, und beobachte die Menschen, die mir entgegen kommen und die, die von hinten kommen, und wenn sie die Fläche erreichen, mache ich das Bild.

Diese Methode fußt außerdem auf der Theorie, dass man an der Ecke 5. Avenue und 57. Straße in New York stehen kann und nicht sehr lang auf einen Winogrand-esken Moment warten muss.

Können Sie durchs Leben gehen, ohne überall Bilder zu sehen?

Shore:Ich sehe nicht immer Bilder, aber – unglücklicherweise? - nehme ich die meiste Zeit sehr genau wahr, was ich sehe. Ich mache das einfach schon so lange: Ich sehe bewusst. Ich sehe Fotografie nicht als ein notwendiges Mittel, um ein Ereignis zu dokumentieren. Für mich ist Fotografie eine Möglichkeit, diese Wahrnehmungen mitzuteilen, aber ich gehe nicht durch die Welt und denke: ,Hätte ich doch bloß meine Kamera’.