Essen. Nach langem, literarischen Schweigen ist sie zurück: Die Autorin Judith Hermann hat ein neues Buch herausgebracht. "Alice" ist besser als alles, was sie je geschrieben hat. Fünf Erzählungen über den Tod.

Sie galt einmal als Superstar der deutschen Literatur, als das sehnlich erwartete junge Genie. Das war 1998, als Judith Hermann, gerade 28 Jahre alt, ihren ersten Erzählungsband „Sommerhaus, später” veröffentlicht hatte. Das Buch war bemerkenswert, doch die Begeisterung, die es weckte, trug peinliche Züge; ein älterer Literaturkritiker machte umgehend eine „hervorragende Autorin” aus, ein anderer vernahm allen Ernstes den „Sound einer Generation“.

Allerdings war der Band mit 250 000 verkauften Exemplaren und Übersetzungen in 17 Sprachen einer der größten deutschen Bucherfolge der letzten Jahre.

Dann passierte lange nichts; Judith Hermann bekannte in Interviews erfreulich offen, sie leide unter dem Erwartungsdruck.

Fünf Jahre später dann neue Erzählungen. Miserabel. Unklar, leidenschaftslos, auf ärgerliche Weise abgeklärt, das war „Nichts als Gespenster.” Und wieder verschwand Judith Hermann; das junge Genie war inzwischen Daniel Kehlmann, „Die Vermessung der Welt” erreichte ganz neue Verkaufserfolge. 1,4 Millionen Exemplare allein in deutscher Sprache.

Langes Schweigen

Jetzt kehrt Kehlmanns leise Schwester aus ihrem langen literarischen Schweigen zurück und macht dem lärmend gefeierten Meister den Rang streitig. Nicht einfach so und allgemein, sondern in exakt der literarischen Form, die Kehlmann vorgeführt und angeblich kreiert hat: Erzählungen, deren Inhalte einander kreuzen; in denen die Protagonisten der anderen, scheinbar abgeschlossenen Texte mäandern, ein Roman in Stücken. Aber was bei Kehlmann formal und artistisch wirkt, ist bei Judith Hermann eine seelenstarke, überzeugende Gratwanderung: Sie erzählt in ungewöhnlicher Weise von allgemeinen Erfahrungen.

Alice, handelnde und erleidende Figur der fünf Erzählungen, erfährt den Tod in unterschiedlicher Intensität. Freunde, ein Verwandter, der Lebensgefährte. Es ist ein sanftes, wütendes Buch, voll stiller Reflexion und klagendem Aufbegehren; gegen die Unabänderlichkeit, gegen die Normalität, die das Sterben zudeckt mit Gleichmut. Gegen die eigene Lethargie und Unfähigkeit, gegen einen Alltag, der das Alltagserlebnis Tod gleichmütig mit Erde bewirft.

Nicht nur Erinnerung

Micha. Seine Frau bittet Alice, seine Exfreundin, ihr am Totenbett beizustehen, und sei es, um das Kind zu beruhigen. Eine fragende Geschichte, in der Zweifel am Umgang der Menschen miteinander schwingen.

Conrad. Wohl auch ein Verflossener, aber ganz anders, nicht nur, weil er viel älter ist als Alice. Er hat sie eingeladen, ihn am Gardasee zu besuchen, und sie kommt in einer äußerst prekären Dreierbeziehung, mit einer androgynen Freundin und einem Mann, in den sie angeblich beide nicht verliebt sind. Conrads Tod ist eher ein melancholischer Scherz Gottes; niemand hat ihn erwartet, und dass die Gäste vor allem saufen und Sex haben, während er geht, ist nicht mal tragisch. Er hatte nichts mehr zu sagen und hätte ihnen den Spaß gegönnt.

Richard. Stilles, verzweifeltes Warten auf den Tod eines Menschen, den man gern hat.

Malte. Der Onkel, von dem Alice mehr wissen möchte, als dass er schwul war und sich als junger Mann das Leben genommen hat.

Und Raymond. Den wir aus anderen Geschichten kennen, dessen Tod Alice weniger akzeptieren kann als den der anderen. Er lebt, für sie. Darum wohl wurde dieses Buch geschrieben: um dieser starken, letzten Erkenntnis willen, dass die Toten nicht verschwinden, auch nicht bloß weiterleben in unserer Erinnerung. Dass sie vorhanden sind, in unserer Lebenswelt, als Schatten.

Ein starkes Buch. Ein bewegendes Buch.

Judith Hermann: Alice. S. Fischer, 189 Seiten, 18,95 Euro