Essen. Die Autorin Judith Hermann über ihr Bedürfnis nach Passivität, ihr Wutdefizit, die Frage, warum sie mit ihren Hauptfiguren verwechselt wird, und über die "kleine Schwierigkeit" mit Büchern von Frauen.

Drei Bücher in elf Jahren. Das ist, rein quantitativ gesehen, nicht wirklich viel. Doch im Fall der sich auch sonst rar machenden Schriftstellerin Judith Hermann steigert Knappheit die Nachfrage. Als 1998 ihr Debüt, »Sommerhaus, später«, erschien, wurde es von der Kritik gefeiert. Den »Sound einer Generation« gefunden zu haben, attestierte Hellmuth Karasek der 1970 in Berlin geborenen Autorin damals im »Literarischen Quartett«. Unter souveräner Missachtung der Marktgesetzlichkeiten fertigte Judith Hermann dann in fünf Jahren einen weiteren Band mit Erzählungen an: »Nichts als Gespenster«, 2007 für das deutschsprachige Kino mit u.a. August Diehl, Fritzi Haberlandt und Jessica Schwarz verfilmt.

»Alice«, Judith Hermanns vor kurzem herausgekommener dritter Prosaband, versammelt fünf Erzählungen, in denen fünf Männer sterben. Ein in vielerlei Hinsicht überwältigendes Buch weniger über das Sterben als über das Weiterleben, über ohnmächtige, in Routinen Halt suchende Trauer und diese »klar und leuchtenden« ersten Tage, Wochen und Monate nach dem Verlust. //

Ein Foto hat 1998 Ihr Image als literarische Vertreterin eines jungen Berlin-Gefühls mitgeprägt. Es zeigt Sie mit einem Pelzkragen, der für einen Rezensenten nach »Osteuropa« duftete. Andere sahen etwas Russisches, Melancholisches oder Verlorenes in dem Bild. Machen Sie sich heute Gedanken darüber, wie Sie wirken wollen, wenn Sie zu einem Fototermin gehen?

Hermann: Ja. Wenn das Foto eine warum auch immer große Rolle bei Buchbesprechungen spielt, bleibt das nicht aus. Also: Ich mache mir an und für sich Gedanken darüber, und wie ich aber wirken möchte – das weiß ich nicht. Ich habe oft das grundsätzliche Bedürfnis, passiv zu bleiben. Beim Schreiben. Beim Fotografiertwerden auch. Vielleicht ist das eine Schwäche, vielleicht Hilflosigkeit, vielleicht ein Mangel an Entscheidungsfähigkeit?

Wie sehen Sie sich auf dem neuen Bild?

Hermann: Ich finde das neue Bild – was für ein Ausdruck eigentlich, oder?, das neue Bild – ich finde also das neue Bild sehr klar und deutlich. Manche Leute fragen sich, was ich mir dabei gedacht hätte, ich würde zehn Jahre älter aussehen als ich sei. Aber ich finde, dieses Bild entspricht mir sehr. Es ist ein einfaches Bild. Und es soll wohl möglichst wenig Assoziationsketten freisetzen. Ich sehe mich selbst geschlossen, etwas streng und eben älter geworden. Aber ich bin ja auch älter geworden, was soll das also alles. Für mich war es wichtig, unter den vielen Aufnahmen eine zu finden, in der ich mich geschützt fühle.

»Ist Judith Hermann noch zeitgemäß«, so fragte vor kurzem eine Sonntagszeitung. Verletzt Sie so etwas?

Hermann: Es erstaunt mich eher, es erstaunt mich, wie deutlich in dieser Frage Buch und Autor zu einem Begriff werden. Es wird nicht nach dem Buch gefragt, es wird nach mir gefragt. Bin ich noch zeitgemäß? Ja wollte ich denn je zeitgemäß sein? Lieber Himmel. Wäre es zu der Feststellung gekommen, ich sei nicht zeitgemäß, möchte ich mich fast dafür bedanken.

Zeitgemäß sein zu müssen, dieser Anspruch wird seit »Sommerhaus, später« immer wieder an Ihre Erzählungen gestellt. Damals erkannte man in Ihrem Debüt das Lebensgefühl einer vermeintlich entscheidungsschwachen, sich verschwendenden Generation wieder. Wie weit weg fühlt sich »Sommerhaus, später« heute für Sie an?

Hermann: So weit weg wie diese ganze nicht mehr kenntlich zu machende Zeit, bevor ich ein Kind hatte. So weit weg wie für meinen Sohn, der sich nicht vorstellen kann, dass es mich ohne ihn gegeben haben könnte.

Und das Berlin der 90er Jahre, in dem viele der Geschichten in »Sommerhaus, später« spielen?

Hermann: Ich glaube, die Wahrnehmung der Stadt ist stark an meine eigenen, sich schließenden Verhältnisse gebunden. Berlin schien damals wohl eine offene, provisorische, bewegliche, widersprüchliche Stadt gewesen zu sein. Alles ist mir schwarz-weiß in Erinnerung, regnerisch, Temperaturen wie in Wohnungen, die mit Kohleöfen geheizt worden sind. Heute ist alles pastellig, und es regnet nur noch selten. Ich wollte damals kein Berlin-Buch schreiben. Ich bin in Berlin geboren und habe über eine Zeit meines Lebens in Berlin geschrieben.

Aber in dieser Stadt formierte sich gerade ein richtungsloses Gefühl des Auf- und Umbruchs…

Hermann: …und zufälligerweise passten meine Geschichten genau zu diesem Gefühl, das war alles, an einen Generationssound habe ich dabei nicht gedacht. Ich wollte auch nicht Teil einer Generation sein, ich wollte alleine sein und mit meinen Figuren alleine die Frankfurter Allee rauf und runter fahren. Es sollte meine Idee sein, niemandes Idee sonst; und »Sommerhaus, später« als den Sound einer Generation zu definieren bedeutete doch, dass ich etwas teilen sollte, das ich selbst als einzigartig empfand. Aber das ist so – mit 26 Jahren steht man im Zentrum und die ganze Welt dreht sich um eine egozentrierte Achse. Je älter man wird, desto mehr verschiebt sich die Schwerkraft.

Sie haben sechs Jahre an ihrem neuen Buch gearbeitet. Das ist eine verhältnismäßig lange Zeit.

Hermann: Ich brauche eine bestimmte Zeit, bis ich den Schlüssel zum Text habe. Bis der Text sich mir zu erkennen gibt. Lesbar wird. Das war schon immer so.

Was heißt das?

Hermann: Ich muss ziemlich viel Text weg schreiben, bis irgendwann so etwas wie ein roter Faden zum Vorschein kommt. Wenn ich Glück habe, kann ich ihn fassen. Dann zieht er mich in den Text hinein. Aber dann kann es immer noch lange dauern, bis der Text zu einem Ende gefunden hat. Und ich habe aufgehört zu rauchen und musste das Schreiben ohne Rauchen erst lernen.

Ihre Abstinenz hat sich auf das Schreiben ausgewirkt?

Hermann: Als ich mit dem Rauchen aufgehört habe, gab es schon einen ziemlich langen Text, in den ich dann, ohne Zigaretten, im direkten und übertragenen Sinne einfach nicht mehr hinein kam. Er hatte sich zurückgezogen. Wie eine Schnecke ins Schneckenhaus.

War die Beschäftigung mit dem Tod und mit dem Abschiednehmen da schon so dominant?

Hermann: Das Thema vom Loslassen und Verlassen gab es schon im Zigaretten-Text, allerdings noch viel metaphorischer und erzählerischer. Es gab mehr Kulisse, mehr Requisite, die Bühne war sozusagen voll und ich trug immer noch weiter und unentwegt Gegenstände hinauf, baute um und ab, ich hab mich wohl gefühlt, aber gleichzeitig die langsame Ahnung vom horror vacui bekommen. Und irgendwann fand ich mich auf dieser vollgestellten Bühne überhaupt nicht mehr zurecht.

Sie haben neu angefangen?

Hermann: Ich habe dann die erste Geschichte für Alice, »Micha«, geschrieben und das ging, für meine Verhältnisse, ganz gut. Und dann wusste ich, dass es für die folgenden vier Geschichten kein anderes Thema geben würde, wenn ich diese Micha-Geschichte behalten wollte. Es gab ein leises Grundgefühl dabei: Wut. Obwohl in »Alice« wenig wütend wirkt. Es gibt wenig direkte Emotion in den Geschichten, geschweige denn direkte Wut, aber es gibt Wut zwischen den Zeilen, in den Leerstellen. Ich weiß das.

Wut ist ein Gefühl, das für Sie mit dem Abschiednehmen und Sterben verbunden ist?

Hermann: Für mich ist das ein theoretisches Gefühl, das ist bedauerlich. Ich schätze, ich habe eher so etwas wie ein Defizit an Wut. Vielleicht hat die emotionale Zurückgenommenheit des Buches etwas damit zu tun? Wirklich wütend bin ich selten, oder besser: Ich bin es, aber dann auf eine unkörperliche, gestaltlose Weise.

Können Sie den Eindruck nachvollziehen, dass Ihre Hauptfigur kühl wirkt, mit einer an Fühllosigkeit grenzenden Gelassenheit mit dem Sterben umgeht?

Hermann: Ja, aber das ist ihre Distanz, ein Schutzmechanismus, so etwas wie eine Rüstung. Anders hätte ich sie nicht schreiben können, darun- ter sind Abgründe von Traurigkeiten, aber ich kann keine Alice schreiben, die auf antike Weise trauert.

Wenn man die Rezensionen liest, die in den letzten Tagen zu »Alice« erschienen sind, kann man den Eindruck haben, dass viele Rezensenten nicht nur als Kritiker tätig sind, sondern auch als Erzieher, die Ihnen beim Erwach- senwerden zur Seite stehen wollen. Als wären Sie immer noch das vom Betrieb ernannte »Fräuleinwunder«, der entwicklungsfähige Jungstar des Literaturbetriebs.

Hermann: Ich werde einerseits oft gefragt, was ich in den vergangenen sechs Jahren gemacht hätte. Und andererseits laufen die elf Jahre seit »Sommerhaus, später« zu einem Tag irgendwann in der letzten Woche zusammen, ein erstaunlich relativer Zeitbegriff. Zwischen mir und den Figuren der Erzählungen wird wenig unterschieden. Vielleicht sollte ich das als ein Kompliment betrachten.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Hermann: Es gibt sie immer noch, die kleine Schwierigkeit mit Büchern von Frauen, oder? Mit der Frauenliteratur. Ich habe eigentlich keine Lust, das zu denken, aber es fällt mir doch zunehmend ein. Das Schreiben von Frauen wird anders angezweifelt, ihre Bücher werden anders gelesen, ihre Zurechnungsfähigkeit anders befragt. Eine schreibende Frau hat immer einen Riss in der Kapsel, ihr werden die Fragen nach der psychischen Verfassung, nach der Balance zwischen der Arbeit und den Kindern, nach der Betreuung der Kinder während der Arbeit gestellt. So ist das.

Stand »Alice« noch unter dem Druck, sich beweisen zu müssen?

Hermann: Ich mag das Wort vom Druck eigentlich überhaupt nicht. Und wenn ich was beweisen muss, dann höchstens mir selbst, aber in diesen Formeln denke ich eigentlich gar nicht. Ich bin ziemlich dürftig ehrgeizig. Und ich habe mir in meinem ganzen Leben noch nichts selbst beweisen wollen. Vielleicht gab es beim zweiten Buch ein Wiederholungsbedürfnis, die bange Frage, ob das tatsächlich noch einmal gehen sollte – ein zweites Buch schreiben. Jetzt staune ich darüber, dass es ein drittes gibt.

Aber Sie würden nicht staunen, wenn es irgendwann auch ein viertes gäbe.

Hermann: Doch. Mir ist meine Existenz als Schriftstellerin immer unklar, das wird auch so bleiben. Schreiben ist nichts, was man ein für alle Mal kann. Ich weiß nie, ob ich in einen neuen Text hinein finde, und wenn ich drin bin, weiß ich nicht, ob ich wieder heraus finden werde. Ich weiß nicht, ob ich meine Sprache werde halten können. Ich fühle mich als Schriftstellerin nur in der Zeit, in der ich an einem Buch arbeite. Bald wird dieses Gefühl wieder weg sein, ich werde es mir neu erarbeiten müssen.

Judith Hermann liest am 8. Juni 2009 in der Literaturhandlung Müller & Böhm im Heine Haus in Düsseldorf .

Interview: Andrej Klahn / erschienen in K.WEST Ausgabe Juni 2009