Ruhrgebiet. .

Eben hat das Ruhrgebiet die Schachtzeichen vom Himmel geholt, nun erhebt es seine Stimme: In der Kulturhauptstadt sind die Menschen selbst die Kultur, und am Wochenende werden sie ein Lied davon singen. Beim „Day of Song“ rollt sich das Revier selbst den Klangteppich aus.

Melodien von Millionen sollen es werden, alle Bürger ein einziger Chor. Kommenden Samstag. 5. Juni, ab 10 Uhr sollen sie singen, in über 50 Städten, auf Straßen, Plätzen und Märkten, auf Schiffen und in Straßenbahnen, auf Rolltreppen, in Geschäften – wo sie gerade sind. Es ist den Tücken der deutschen Sprache geschuldet, aber ein schönes Bild, dass der britische Regisseur Jonathan Eaton die singenden Massen „eine Sammlung“ nennt: 760 Chöre sind dabei, 26 000 Sänger bei über 600 Auftritten in jedem Winkel der Region.

Ihre Musik soll wandern, schwimmen, Räume füllen. Sie soll hinter die Mauern der Gefängnisse dringen, Baustellen verschönern und die Hektik der Innenstädte bremsen. Sie soll Hochschüler zusammenbringen und Kinder, Profis und Laien. Sie soll sozial sein im Seniorenheim, sakral in der Kirche, frontal in der direkten Begegnung oder selbst atonal: Erlaubt ist auch, was weniger gefällt.

Die Stimme sei die primitivste Form des künstlerischen Ausdrucks, sagt Steven Sloane

„Die Stimme“, sagt Steven Sloane, als Künstlerischer Direktor von Ruhr.2010 verantwortlich für die Musik, „ist die primitivste Form künstlerischen Ausdrucks.“ Aber deshalb noch nicht schlecht. Jeder Mensch hat dieses Instrument, auf dem er nur spielen wollen muss: „Singverweigerer“, hofft Jonathan Eaton, „gibt es nicht.“ Darf es nicht geben an diesem Tag, an dem um 12.10 Uhr wirklich alle dem Ruhrgebiet ihre Stimme geben sollen: „Glück auf“ wird gesungen und Grönemeyers neue Hymne „Komm zur Ruhr“.

Dabei sind die Sänger dann längst da: Im Lauf der Woche schon reisen über aus den Partnerstädten 30 internationale Gesangsensembles an, Freitagabend treffen sie zum Teil langjährige Sangesfreunde bei Begegnungskonzerten. Um Mitternacht beginnen im Oberhausener Gasometer musikalische Sternstunden („Spem in Alium“), im Nordsternpark Gelsenkirchen geht mit dem Chorwerk Ruhr die Sonne auf. Für mehr als 50 Chöre lässt der Day of Song 13 Schiffe zu (Kanal-)Wasser: An Bord wird – gesungen, was sonst, besonders schön angeblich in den Schleusen. „Auf und nieder, immer wieder!“

Musik in den Ohren

Auch den ganzen Nachmittag über hört das Singen nicht auf; Zechen werden, natürlich, zum Klingen gebracht und andere Orte der Industriekultur, aber auch Baggerschaufeln oder gar Polizisten: In Dortmund geht der Polizeichor auf „Streife“.

Wer dann noch nicht heiser ist, reist am Abend in die Arena auf Schalke: Steven Sloane wird hier das größte Chorkonzert der Welt dirigieren, 65 000 Laien sollen auf den Rängen mitsingen (nur zuhören ist allerdings auch erlaubt) und auf dem Spielfeld wieder 300 Chöre. Auf dieser 360-Grad-Bühne tritt auch Bobby McFerrin auf, die Operndiva Vesselina Kasarova oder der belgische Mädchenchor „Scala“. Die Wise Guys sind dabei und alte Bekannte wie der Zigeunerchor, Carmen, der Triumphmarsch aus „Aida“ oder der Gefangenchor aus „Nabucco“. Bei letzterem wirken auch stumme Stimmen mit: Gehörlose in einem Gebärdenchor.

Im Vorfeld ist da viel von Gefühl die Rede und von „Gänsehaut“, und so könnte es wirklich kommen: „Mein Rekord waren bislang 10 000 Sänger“, gesteht Sloane, „aber das werden mehr als Millionen!“ Und selbst, wenn es womöglich nur eine wird: Das Ruhrgebiet singt, am Ende sogar das Lied vom „Land of Hope and Glory“. Das ist zwar eigentlich die inoffizielle englische Hymne. Aber für manchen Revier-Patrioten wohl Musik in den Ohren.