Dortmund. Wenn mietfreies Wohnen zur Konzeptkunst wird, dann geht es um „2 – 3 Straßen“ und Ruhr.2010. Künstler und Initiator Jochen Gerz erklärt, was er mit dem Projekt meint. Teilnehmer Mislav Stambuk sagt, wie es sich anfühlt – und welche Pläne er schmiedet.
Die Reklame-Schilder leuchten in grellen Farben. Den Yayla Grill preisen sie an, die Back-Insel Simit Sarayi und den Afro World Hair Shop. Dann geht kurz vor dem Borsigplatz eine kleine ruhige Straße ab. Die Schlosserstraße. Sanierte Arbeiterhäuser reihen sich in Dortmunds Nordstadt. Bäume fehlen. Über einer Tür flackert eine Neon-Lampe, das Klingelschild ist noch frisch.
Die Tür öffnet Mislav Stambuk. Zufrieden präsentiert der 29-Jährige die geräumige Wohnung. Sie ist frisch renoviert. Noch stapeln sich Kartons vor der Wohnungstür, liegen Bohrer und Schraubenzieher auf dem Boden. Mislav Stambuk ist gerade erst eingezogen. Die 56 Quadratmeter könnte sich der Student für Bauingenieurswesen nicht leisten. Doch Stambuk ist Teil des Projekts „2 – 3 Straßen“, das wiederum Teil von Ruhr.2010 ist.
Ein Jahr mietfrei
Ein Jahr lang dürfen er und 77 weitere Projektteilnehmer mietfrei wohnen. Als Gegenleistung sollen sie ihre Umgebung verändern, mitgestalten, prägen – und darüber schreiben. Gedanken, Erlebnisse oder Ideen sollen festgehalten werden. Die intuitiven Einträge aller Teilnehmer werden gesammelt und zum Projektabschluss in einem Buch gebündelt. So die Idee.
„Ich will, während ich hier wohne, meinem Bürger-Ideal gerechter werden“, sagt Mislav Stambuk. „Von meiner gewonnenen Lebensqualität will ich etwas an meine Nachbarn weitergeben und das Viertel etwas schöner und lebenswerter machen.“
Armut und Alkoholismus
Ein ambitioniertes Projekt, denn den Ist-Zustand der Nordstadt beschreibt er so: Armut, mangelnde Integration und Alkoholismus. „Diese Themen springen einen hier förmlich an“, sagt Stambuk. „Ich sehe hier Leute, die schon mittags mit der Bierflasche herumlaufen, einen nachts nach Drogen fragen oder im Supermarkt ungefragt Tipps zum billigeren Kauf geben.“
Dönerläden, türkische Gemüsehändler, Reisebüros und die Moschee schocken den gebürtigen Bochumer nicht. „Ich finde das interessant. Integration war für mich schon immer ein Thema“, sagt der Sohn kroatischer Eltern, die vor seiner Geburt nach Deutschland flüchteten.
„Nicht-Tagebuch“ gibt’s nur gedruckt
Deswegen will er im Sinne von „2 – 3 Straßen“ auf seine Nachbarn zugehen, die – wie er – keine Nachnamen tragen, die nach Müller und Schmidt klingen. Dass er und somit auch sie Teil des Kulturprojekts sind, hat Stambuk ihnen noch nicht erzählt. Auch der Künstler und Initiator Jochen Gerz hat sie nicht informiert. „Es geht um Kreativität, Spontaneität und um Veränderungen in Straßen, die sonst niemanden interessieren. Die Besucher werden selbst in nicht geringem Maße durch ihr Kunstinteresse dazu beitragen“, heißt es in der Projektvorstellung.
Damit auch die unfreiwilligen Teilnehmer, die bereits vorher in der Straße wohnten, mitmachen können, sollen Internet-Terminals in den Straßen aufgestellt werden. Und auch obwohl der Internetzugang für Mislav Stambuk nicht zum Jahresbeginn funktionierte, schreibt der 29-Jährige jetzt alle zwei, drei Tage Gedanken, Wortspiele oder Songzitate auf. Er nennt es sein „Nicht-Tagebuch“. Wer schon jetzt wissen will, was genau sich dahinter verbirgt, wird jedoch enttäuscht. Die Einträge sind nicht täglich in einem Blog abrufbar. Sie werden lediglich gesammelt und für ein Buch gebündelt.
Hoffnung auf Eigendynamik
Nicht nur in Dortmund, auch in Duisburg und Mülheim startete „2 – 3 Straßen“ zu Jahresbeginn. Künstler, Schriftsteller, Tänzer, Musiklehrer und eben Studenten haben ihre kostenlosen Quartiere bezogen. Ob das von Jochen Gerz geplante „Unikum in der zeitgenössischen Kunstlandschaft“ geschaffen werden kann, wird sich zeigen.
Mislav Stambuk jedenfalls ist motiviert. Weil er jetzt weniger arbeiten muss, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, will er sich etwa gegen die Schließung des Freibads Stockheide engagieren, „’mal zu einer Stadtteilversammlung gehen“. Ein Straßenfest, das sich nachhaltig etabliert, würde er gerne organisieren. Nur über „ungelegte Eier“ will er nicht zu viel sprechen.
„Ich mache hier nicht viel anders, als ich es in einer anderen Wohnung tun würde. Nur: Ich will hier eine Veränderung zum Guten erreichen“, sagt er. „Ein neuer Nachbar ist immer ein neuer Impuls. Wenn 31 neue Nachbarn auf einmal einziehen, hoffe ich auf eine gewisse Eigendynamik.“
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